Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Frau atmete tief ein. „Der Blick des Arztes war ganz seltsam, die Schwester blätterte nur in Papieren. Da habe ich gesagt: Kommen Sie mir nicht mit Hiobsbotschaften! Aber der Arzt wurde bitterernst. Seine Worte werde ich niemals vergessen: Sie haben Metastasen in der Leber. Ich nehme an, dass Sie an Lungenkrebs erkrankt sind – oder an Brustkrebs. Meiner Meinung nach ist das nicht mehr zu operieren, denn Ihr Krebs hat gestreut .“
Sie zündete sich eine neue Zigarette an. „Obwohl ich zusammengesackt bin, blieb mir keine Zeit für Fragen. Vor dem Arztzimmer warteten schon die nächsten Patienten. Die Schwester hat mich hinauskompl imentiert. Plötzlich stand ich auf der Straße und wusste nur, dass ich Krebs habe. Ich dachte, ich müsste direkt sterben.“
Mike schwieg. Er hatte schon öfter gehört, dass Ärzte unsensibel sein konnten. Aber dieser Umgang mit dem Verkünden einer tödlichen Diagnose erschreckte ihn zutiefst.
„Zuhause habe ich erst einmal geputzt, bis alles blitzblank war“, erinnerte sich Bella. „Anschließend klemmte ich mich ans Telefon, und telefonierte drei Tage und drei Nächte mit meiner Familie und meinen Freundinnen. Ich musste ja alle informieren. In dieser Zeit schloss ich mit meinem Leben ab. Am darauffolgenden Montag begann die langwierige Suche nach dem Primärtumor. Er wurde Ende Oktober entdeckt, mithilfe einer PET-Computertomografie . Dabei wird der ganzen Körper gescannt. Seither weiß ich, dass ich Leberkrebs habe. Im Endstadium. Ich zog sofort nach Haus Holle, denn mein Arzt prophezeite mir, dass ich nur noch vier Wochen zu leben hätte. Dieses Ultimatum läuft in ein paar Tagen aus!“
„Glauben Sie an die zeitliche Prognose?“
„Natürlich“, sagte Bella Schiffer. „Dr. Albers erzählt mir zwar immer das Gegenteil, aber ich glaube, dass die Ärzte draußen diesbezüglich ehrlicher sind. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass es schon so schnell vorbei sein soll. Schließlich fühle ich mich fit. Optisch bin ich auch tipp topp.“
Mike stimmte ihr zu.
„Ich will nicht verfallen und schrecklich aussehen“, sagte Bella. „Es wäre das Schlimmste für mich, wenn man mir die Krankheit ansieht. Das macht mir so große Angst.“
Mike verstand, dass die junge Frau, die erst 39 war, zwischen ständiger Resignation und ständiger Hoffnung schwankte. Noch war unklar, welches der beiden Gefühle am Ende die Oberhand behalten würde. „Sie sehen sehr gut aus“, verriet er der Kranken. „Kein bisschen angegriffen.“
„Aber mein Bauch bläht so auf! Liegt das am Morphium? Seit ein paar Tagen laufe ich nur noch in einer Jogginghose herum. Auch die Gürtelrose am Hals will nicht verschwinden.“
Bella zündete sich die dritte Zigarette an. Sie war hypernervös. „Einerseits wirkt alles so normal, weil unsere Wohnung um die Ecke ist. Andererseits ist es vielleicht unklug, immer nach Hause zu gehen. Ich bin ein derartiger Putzteufel, dass ich mich nur aufrege, wenn ich sehe, dass nicht alles blitzblank ist. Innere Ameisen hatte ich schon immer in mir. Deshalb konnte ich meinen früheren Job als Leiterin von Event-Caterings und die Tätigkeit im Beauty-Salon auch immer gut mit dem Haushalt verbinden. Andere Menschen müssten sich klonen lassen, um zu schaffen, was ich geschafft habe.“ Sie lachte laut auf.
„Sie haben Empfänge ausgerichtet?“
„Jahrelang“, antwortete Bella. „Das schult die Menschenkenntnis enorm.“
„Kannten Sie Knopinski von früher?“
„Wie bitte? Wieso sollte ich Knopinski gekannt haben? Wie kommen Sie darauf?“ Argwöhnisch lehnte sich Bella zurück.
„Es war eine Vermutung. Weil er mal sagte, er würde nie ein Gesicht vergessen…“
„Ach das! Nein, diesen alten Sausack hätte ich sofort wieder erkannt. Ich bin ihm erst hier im Hospiz begegnet. Irgendwann erwischte ich den alten Lüstling, als er durch das Schlüsselloch in mein Zimmer spähte. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Ich habe mich bei der Hospizleitung beschwert, aber der Alte hatte eine gute Ausrede parat. Seine Entschuldigung lautete, dass er seine Schnürsenkel habe schließen müssen.“
Sie warf den Kopf in den Nacken. „Andererseits… Will ich es ihm verübeln, dass er einer knackigen jungen Frau beim Umziehen zusehen will?“
„Zudringlich wurde er also nicht?“
„Ein bisschen“, gestand Bella gedehnt. „Ein paar Tage später machte er komische Andeutungen – nach dem Motto, dass hinter verschlossenen Zimmertüren jede Menge
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