Die Flotte von Charis - 4
Charis diesen Konflikt überhaupt überlebte. Dass nun Chisholm und Emerald zu dem neugeborenen ›Kaiserreich Charis‹ hinzugekommen waren, half natürlich. Aber da nun einmal mindestens achtzig Prozent der gesamten Menschheit auf einem der Kontinente lebten, die unmittelbar von der Kirche des Verheißenen regiert wurden, änderte natürlich die Tatsache, dass sich durch dieses neue Kaiserreich die Anzahl der charisianischen Bevölkerung in etwa verdoppelt hatte, kaum etwas an den alles in allem doch eher trüben Aussichten.
Doch an diesem Abend schien sich niemand in trübsinnigen Gedanken zu ergehen. Der auf Hochglanz polierte schwarze Marmorboden des Ballsaals, auf den in honiggoldenem Marmor aus dem Echsengebirge des Herzogtums Ahrmahk als Intarsienarbeit der Kraken schimmerte, das Wappentier von Charis, schien im Schein der zahllosen Kerzenflammen all der Kronleuchter fast zu glimmen. Der schwarze Marmor war wie ein Teich aus tiefem, schwarzem Wasser, auf dem sich die Tänzer spiegelten, und im gleichen Lichtschein glitzerten auch die Tänzerinnen und Tänzer selbst. An ihrem Schmuck brach sich das Licht, ließ rotes, blaues und goldenes Feuer von Rubinen, Saphiren und Topasen aufleuchten. Goldene und silberne Ketten, Stickereien mit Edelmetallplättchen, raschelnde Baumwollseide und die noch kostbarere Stahldistelseide …
Wer oft an Geld dachte − und welcher Charisianer tat das nicht? −, hätte innerlich das schwere, musische Klirren all der Münzen hören können, die den Besitzer hatten wechseln müssen, um dieses prächtige, wirbelnde Wechselspiel aus Stoffen, Edelmetallen und Juwelen zu schaffen.
So war beispielsweise Stahldistelseide, die noch bis vor kurzer Zeit jenseits der Grenzen des Harchong-Reiches praktisch nicht erhältlich war, an diesem Abend bemerkenswert häufig vertreten. Die Entkörnungsmaschinen, deren Konstruktion Merlin Ehdwyrd Howsmyn und Rhaiyan Mychail nahegelegt hatte, waren tatsächlich auch dafür geeignet, die winzigen, stacheligen und giftigen Samenkörner von den Rohfasern der Stahldistel zu trennen. Anders als die Baumwollseide musste man bei der Stahldistel die Rohfasern mehrmals durchlaufen lassen und dabei zunehmend feinere Kämme zum Einsatz bringen. Daher blieb diese Seidenart auch weiterhin die deutlich kostspieligere − obwohl Stahldisteln ungleich schneller wuchsen und sich auch an deutlich verschiedenere Arten des Klimas anpassen konnten. Doch schon jetzt sank der Preis für diese Stoffart, so sehr Mychail sich auch bemühte, die Verfügbarkeit nur allmählich zu steigern. Tatsächlich hatte Mychail angemerkt, die Materialkosten könnten bald so tief fallen, dass man ernstlich in Erwägung ziehen solle, daraus in Zukunft Segel zu fertigen.
Diese Vorstellung war sowohl Cayleb als auch Graf Lock Island schlichtweg ungeheuerlich erschienen, doch letztendlich waren sie zu dem Schluss gekommen, es spreche tatsächlich sogar einiges dafür. Zum einen war es fast unmöglich, aus Stahldistelfasern gewebten Stoff zu zerstören. Er war äußerst witterungsbeständig und gegen Mehltau und Schimmel praktisch immun, und so würden, selbst wenn die Anschaffungskosten hoch sein mochten, deutlich weniger Kosten dafür anfallen, das Tuch beizeiten zu ersetzen. Und dazu waren derartige Stoffe enorm robust, deutlich reißfester als alles, was die Menschheit auf Terra jemals hatte fertigen können − bis zur Einführung von Kunstfasern, natürlich. Zusammen mit der außergewöhnlich feinen Webart, die mit diesen Fasern möglich war − und die damit sehr viel effizientere Segel abgaben als alle anderen biologischen Fasern, die jemals auf Terra zur Herstellung von Segeltuch herangezogen worden waren −, sprach somit wirklich einiges für diesen an sich doch ›ungeheuerlichen‹ Vorschlag.
Doch an diesem Abend wäre dieser Vorschlag, den edelsten und teuersten aller Stoffe auf ganz Safehold einem derart gewöhnlichen, rein praktischen Zweck zuzuführen, von den anwesenden Gästen mit Unglauben und Entsetzen gleichermaßen aufgenommen worden. Schließlich stellten sie hier ihren Wohlstand und ihre Eleganz gleichermaßen zur Schau, indem sie eben diesen Stoff beim wichtigsten gesellschaftlichen Ereignis des Jahres anlegten − abgesehen von Caylebs Krönung und seiner Hochzeit mit Sharleyan, natürlich.
Doch die Ehrengäste des heutigen Abends tanzten im Augenblick gerade nicht, und Merlin verzog die Lippen zu einem mitfühlend-mitleidigen Lächeln, als er zu den beiden
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