Die Flotte von Charis - 4
äußerst Ungewöhnliches.
»Ja, Bryahn?«
»Ich bedaure, Euch stören zu müssen Eure Eminenz. Ich weiß, wie beschäftigt Ihr seid. Aber … hier ist jemand, den Ihr wohl sprechen solltet.«
»›Jemand‹?« Fast spöttisch hob Staynair die Augenbrauen. »Hat dieser Jemand vielleicht auch einen Namen, Bryahn?«
»Also … ja, natürlich. Es ist nur …« Ganz entgegen seinem sonstigen Auftreten geriet Ushyr ins Stocken, dann schüttelte er den Kopf. »Ich halte es für das Beste, wenn ich sie einfach hereinbitten würde, falls Euch das genehm wäre, Eure Eminenz.«
Jetzt war Staynairs Neugier endgültig geweckt. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, was Ushyr derart nervös machen sollte. Nach dem, was sein Privatsekretär gerade gesagt hatte, handelte es sich also um eine Besucherin, und Staynair konnte sich keine einzige Frau in ganz Charis vorstellen − vielleicht von Königin Sharleyan abgesehen −, die Ushyr zu einer derartigen Reaktion bewegen mochte. Doch er kannte den jungen Priester lange genug, um dieser nicht eindeutig als solches formulierten Bitte nachzukommen, auch wenn das eigentlich nicht dem Protokoll entsprach, das an sich für einen Besuch beim obersten Primas von ganz Charis vorgesehen war.
»Also gut, Bryahn. Lassen Sie mir noch einen Augenblick Zeit, hier ein wenig aufzuräumen«, sagte er und deutete auf den Bericht, mit dem er sich gerade befasst hatte, »und dann bitten Sie sie freundlicherweise herein.«
»Jawohl, Eure Eminenz«, murmelte Ushyr und schloss leise die Tür, als er sich wieder zurückzog.
Nachdenklich blickte Staynair mehrere Herzschläge lang die Tür an, dann zuckte er mit den Schultern, legte einen schmalen Papierstreifen auf die Seite, der gerade seiner Aufmerksamkeit gegolten hatte, und machte sich daran, die einzelnen Bögen des Berichtes zu sortieren.
Was auch immer die beinahe schon nervöse Reaktion seines Privatsekretärs hervorgerufen haben mochte, es hatte weder Ushyrs Zeitgefühl beeinträchtigt, noch seine Fähigkeit abzuschätzen, wie lange sein Erzbischof wohl brauchen würde, um den Schreibtisch hinreichend aufzuräumen. Staynair blieb gerade genug Zeit, den Bericht beiseitezulegen und sich in seinem Sessel aufzurichten. Dann wurde die Tür wieder geöffnet, und Ushyr trat ein. Ihn begleitete eine schlicht gekleidete Frau, in deren dunklem Haar sich die ersten grauen Strähnen abzeichneten; den beiden folgten zwei Jungen in den Raum. Es war den Gesichtern der Kinder deutlich anzusehen, dass diese Frau ihre Mutter war, und doch war da noch etwas anderes.
Etwas, das Staynair … bekannt vorkam, auch wenn er nicht in der Lage gewesen wäre, genau zu benennen, was es nun eigentlich war. Der Ältere der beiden musste etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, der Jüngere vielleicht zehn oder elf. Das war das Erste, was Staynair durch den Kopf ging, doch unmittelbar darauf folgte ein weiterer Gedanke.
Seine Besucher waren zutiefst verängstigt. Vor allem die Jungen, dachte er. Ihre Mutter ließ es sich weniger anmerken, doch trotz der immensen Charakterstärke, die der Erzbischof ihrem Gesicht ansah, erkannte er auch in ihren Augen nackte Furcht. Und noch etwas anderes. Irgendetwas Dunkles, Leidenschaftliches, einen eisernen Stolz.
»Eure Eminenz«, sagte Ushyr leise, »darf ich Euch Madame Adorai Dynnys vorstellen.«
Staynair riss die Augen auf, und sofort sprang er aus seinem Sessel auf, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Mit drei großen Schritten war er hinter seinem Schreibtisch hervorgetreten und streckte seiner Besucherin die Hand entgegen.
»Madame Dynnys!« Maikel hörte selbst, wie erstaunt seine Stimme klang; es war ihm fast, als höre er einen Fremden mit seiner eigenen Stimme sprechen. »Das ist ein äußerst unerwarteter Besuch!«
Die Hand, die Staynair jetzt mit der seinen umfasste, zitterte leicht, und als er seiner Besucherin erneut in die Augen blickte, sah er hinter der Furcht und dem Stolz pure Erschöpfung − und Verzweiflung. Wie es ihr gelungen sein mochte, die ganze Strecke von den Tempel-Landen bis nach Charis zurückzulegen, ohne von der Inquisition erkannt und in Gewahrsam genommen worden zu sein, überstieg schlichtweg seine Vorstellungskraft.
»Wahrlich«, sprach er weiter und drückte ihr sanft die zitternde Hand, als sich sein eigenes Erstaunen wenigstens etwas zu legen begann, »Gott wirkt seine Wunder in für die Menschen unergründlicher und unvorhersagbarer Weise. Ich habe Sie und Ihre Familie
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