Die Flucht
die Augen auf und warte, dass er kommt.
41
Wenn einer von uns fällt
Das Erste, was ich sehe, sind seine Füße. Sie schlittern die Stufen herunter, nicht hastig, eher gemächlich, jetzt, da er weiß, dass wir hier sind.
Ich halte das Messer in meiner rechten Hand, die linke ist ausgestreckt und erwartet ihn ebenfalls. Ich stehe zwischen den kleinen Steinbänken so weit in der Mitte der Kirche, wie es nur geht. Viola ist nur ein paar Schritte hinter mir in einer der Sitzreihen.
Ich bin bereit.
Ich weiß, ich bin bereit.
Alles, was bisher geschehen ist, hatte nur den einen Zweck, mich hierherzuführen, an diesen Ort, mit dem Messer in der Hand, zusammen mit etwas, was es verdient, beschützt zu werden.
Mit jemandem, der es verdient, beschützt zu werden.
Und wenn ich die Wahl habe zwischen ihr und ihm, dann ist das keine Wahl und die ganze Armee kann mir verdammt noch mal gestohlen bleiben.
Deshalb bin ich bereit.
So bereit, wie ich nur sein kann.
Denn ich weiß, was er will.
»Komm«, sage ich leise.
Aarons Beine werden sichtbar, dann seine Arme, in der einen Hand hält er die Waffe, mit der anderen stützt er sich im Gehen an der Wand ab.
Dann sein Gesicht.
Sein schreckliches, schreckliches Gesicht.
Von dem nicht mehr viel übrig ist. Durch das Loch in seiner Wange sieht man die Zähne, und statt der Nase klafft eine Wunde, die ihn kaum mehr wie ein Mensch aussehen lässt.
Aber er grinst.
Bei seinem Anblick überkommt mich alle Angst der Welt. »Todd Hewitt«, sagt er. Es klingt beinahe wie ein Gruß.
Ich spreche so laut, dass ich das Tosen des Wasserfalls übertöne, und bemühe mich, meine Stimme fest klingen zu lassen.
»Du brauchst deine Waffe nicht, Aaron.«
»Ach, brauche ich sie nicht?«, sagt er und reißt die Augen auf, als er sieht, dass Viola hinter mir steht. Ich drehe mich nicht nach ihr um, aber ich weiß, sie sieht Aaron an, tritt ihm mit allem Mut entgegen, den sie aufbringen kann.
Und das gibt mir Kraft.
»Ich weiß, was du willst«, sage ich. »Ich habe es jetzt herausgefunden.«
»Hast du das, kleiner Todd?«, fragt Aaron. Er kann nicht widerstehen, er sucht in meinem Lärm, so wenig er auch in diesem Getöse davon hören kann.
»Sie ist nicht das Opfer«, sage ich.
Er antwortet nicht, sondern geht ein paar Schritte aus dem Tunnel in die Kirche hinein, schaut zum Kreuz hinauf, auf die Bänke, die Kanzel.
»Und auch ich bin nicht das Opfer«, sage ich.
Sein böses Grinsen wird breiter. Das Loch in seiner Wangereißt weiter auf, Blut sickert hervor und der Sprühnebel verwischt es. »Ein kluger Kopf ist der Freund des Teufels«, sagt er, und ich nehme an, das ist seine Art, mir zu sagen, dass ich Recht habe.
Ich suche festen Tritt und lasse ihn nicht aus den Augen, als er zur Kanzel geht.
»Du bist es«, sage ich. »Das Opfer bist du.«
Und ich öffne meinen Lärm ganz weit, damit nicht nur er, sondern auch Viola hören kann, dass ich die Wahrheit sage.
Ben hat es mir damals erklärt, bevor ich die Farm verließ. Ich weiß jetzt, wie ein Junge in Prentisstown zum Mann wird. Und warum Jungen, die Männer geworden sind, nicht mehr mit Jungen sprechen, die noch keine Männer sind. Warum Jungen, die Männer geworden sind, zu Komplizen der Stadt werden.
Der Grund dafür ist ...
Der Grund ist ...
Ich zwinge mich, es auszusprechen.
Sie töten einen Menschen.
Ganz allein.
Diese Männer, die verschwanden. Die versuchten zu verschwinden.
Sie sind in Wirklichkeit gar nicht verschwunden.
Mr Royal, mein alter Lehrer, der sich betrank und dann selbst erschoss. Er hat sich gar nicht selbst erschossen. Seb Mundy hat ihn erschossen, an seinem dreizehnten Geburtstag, er musste sich ganz allein vor ihn hinstellen und den Abzug drücken, während die Männer von Prentisstown zusahen.
Mr Gault, dessen Schafherde wir übernommen haben, alser vorletzten Winter verschwand, er hat nur versucht zu verschwinden. Bürgermeister Prentiss hat ihn erwischt, als er durch den Sumpf fliehen wollte, und Bürgermeister Prentiss hielt sich an das Gesetz von New World und erschoss ihn, nur dass er damit so lange wartete, bis Prentiss junior dreizehn Jahre alt wurde und sein Sohn Mr Gault ohne jede fremde Hilfe zu Tode gequält hatte.
Und so weiter und so fort. Männer, die ich jeden Tag gesehen habe, wurden von Jungen getötet, die ich jeden Tag gesehen habe, damit diese selbst zu Männern wurden. Wenn die Leute des Bürgermeisters einen Flüchtigen einfingen und ihn einem Jungen zum
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