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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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betrüg mich nicht. »Ich verspreche es.«
    Sie schaut mich an, hört mir zu, und dann nickt sie, kurz und entschlossen, und wir rennen zu dem kleinen Pfad und weiter ...
    »Todd Hewitt!«
    Er hat den Wasserfall schon fast erreicht.
    Wir hangeln uns die steile Böschung hinab, gleich neben dem Grat, an dem das Wasser in die Tiefe stürzt.
    Über uns ragt die Felswand auf.
    Vor uns der Wasserfall.
    Ich beuge mich vor und dann ... weiche ich zurück, suche Halt bei Viola, denn vor mir geht es senkrecht in die Tiefe. Sie packt mich am Hemd und hält mich fest.
    Direkt vor uns braust das Wasser.
    Auch der Felsvorsprung, der unter dem Wasser hindurchführt, liegt vor uns.
    Aber nur einen Sprung ins Nichts bringt uns dorthin. »Das habe ich von oben nicht gesehen«, sage ich.
    Viola fasst mich um die Hüfte, damit wir nicht in die Tiefe stürzen.
    »Todd Hewitt!«
    Er ist nahe, so schrecklich nahe.
    »Jetzt oder nie, Todd«, sagt Viola mir ins Ohr.
    Sie lässt mich los.
    Ich springe hinüber.
    Ich bin in der Luft.
    Ich bin hinter dem Wasserfall.
    Ich habe wieder festen Boden unter den Füßen.
    Ich drehe mich um.
    Sie springt hinterher.
    Ich packe sie fest, wir stürzen beide der Länge nach auf die Felsnase.
    Wir bleiben liegen, atmen schwer.
    Wir lauschen.
    Eine Weile lang hören wir nur das Donnern des Wassers über unseren Köpfen.
    Und dann, kaum vernehmlich im Getöse ...
    »Todd Hewitt!«
    Plötzlich klingt es so, als wäre er meilenweit entfernt. Viola liegt auf mir, und ich atme schwer in ihr Gesicht, und sie atmet schwer in meines.
    Wir schauen einander in die Augen.
    Es ist zu laut, als dass sie meinen Lärm hören könnte.
    Nach einer kleinen Weile stützt sie sich mit beiden Händen rechts und links ab und richtet sich auf. Dabei fällt ihr Blick nach oben und ihre Augen werden riesengroß.
    Ich höre nur, wie sie Wow! sagt.
    Ich folge ihrem Blick.
    Wow!
    Der Felsvorsprung ist alles andere als klein. Sein Sims führt bis weit hinter den Wasserfall. Wir stehen am Eingang eines Tunnels, dessen eine Wand aus Felsen und dessen andere aus Wasser besteht, das weiß und unverschmutzt ins Tal stürzt – mit einer solchen Schnelligkeit, dass man es beinahe für eine echte Mauer halten könnte.
    »Komm«, sage ich und bin schon auf dem Weg. Meine Schuhe saugen sich mit Wasser voll und rutschen, denn derUntergrund ist steinig, nass und glitschig. Wir halten uns so dicht am Felsen wie nur möglich und bleiben dem tosenden Wasser fern.
    Der Krach ist fürchterlich, er verschlingt einfach alles. Er ist so laut, dass er jeden Lärm verschluckt.
    Er ist so laut, dass ich mir noch nie leiser vorgekommen bin. Wir tasten uns voran über Felsbrocken und Pfützen, in denen schleimige, grüne Pflanzen wachsen. Von den Felsen über uns hängen Wurzeln herab.
    »Kommt es dir nicht auch so vor, als ob wir über Stufen gingen?«, ruft Viola. In dem Getöse verstehe ich sie kaum.
    »Tod Hewitt!«, hören wir, die Stimme scheint eine Million Meilen weit entfernt.
    »Wird er uns finden?«, fragt Viola.
    »Ich weiß nicht«, antworte ich. »Ich glaube nicht.«
    Die Felswand hinter dem Wasser verläuft nicht gerade und der Sims folgt den Windungen. Wir triefen vor Nässe, das Wasser ist eiskalt, und wir schaffen es nur mit Mühe, uns an den Wurzeln festzuhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
    Plötzlich fällt der Felsvorsprung steil ab und wird breiter. Die aus dem Stein gehauenen Stufen sind nun nicht mehr zu übersehen. Sie sehen aus wie ein Treppenhaus, das nach unten führt.
    Hier müssen schon Menschen gewesen sein.
    Wir steigen die Stufen hinunter, während das Wasser nur eine Handbreit von uns entfernt in die Tiefe braust.
    Wir erreichen das Ende der Treppe.
    »Oooh«, sagt Viola hinter mir, und ich weiß genau, sie schaut jetzt nach oben.
    Der Tunnel öffnet sich unerwartet. Der Felssims verbreitert sich und wird zu einer Höhle hinter Wasser. Die Felswände reichen bis hoch über unsere Köpfe, und der Wasserfall scheint sich zu blähen wie ein Segel, das uns einhüllt.
    Aber das ist es nicht, worüber sie staunt.
    »Das hier ist eine Kirche«, sage ich.
    Es ist tatsächlich eine Kirche. Irgendjemand hat den Felsen behauen, sodass grob bearbeitete Bankreihen entstanden sind, mit einem Gang in der Mitte. Davor liegt ein Felsklotz, der eine Kanzel bildet, eine Kanzel mit einem flachen Podest, auf dem ein Priester predigen kann, mit einer gleißend weißen Wasserwand im Rücken. Die Morgensonne verwandelt sie in einen

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