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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Vorhang aus Sternen und zaubert Fünkchen auf die nassen, schimmernden Wände, bis ganz nach hinten, wo etwas auf die Felswand gemalt ist. Ein Kreis, von zwei kleineren Kreisen flankiert: New World und seine beiden Monde, das Land der Hoffnung und der Verheißung, in weißer Farbe unauslöschlich und leuchtend auf die Felswand gebannt.
    Die Kirche unter dem Wasserfall.
    »Das ist wunderschön«, sagt Viola.
    »Sie wird nicht mehr benutzt«, stelle ich fest, denn nach dem ersten Staunen fällt mir auf, dass ein paar der Sitzreihen umgestoßen und nicht wieder aufgerichtet wurden. Schmierereien überziehen die Wände, einige wurden mit scharfen Gegenständen eingeritzt, andere in der gleichen wasserfesten Farbe gepinselt wie das Abbild von New World. Meist sind es nur Albernheiten wie »P.M. + M.A.« und »Willz & Chillz auf ewig« und »Lasst alle Hoffnung fahren« und so weiter.
    »Das waren Kinder«, sagt Viola. »Sie haben sich hierhergeschlichen und die Höhle für sich in Besitz genommen.«
    »Meinst du? Machen Kinder so etwas?«
    »Im Raumschiff gab es einen ungenutzten Belüftungsschacht, in den haben wir uns immer heimlich geschlichen«, erzählt sie und schaut sich um. »Wir haben die Wände viel schlimmer beschmiert als diese hier.«
    Staunend sehen wir uns weiter um. Die Decke über uns, dort wo das Wasser über die Klippe stürzt, ist gut und gern zehn Meter hoch und der Felssims misst hier bestimmt fünf Meter in der Breite.
    »Es war eine natürliche Höhle«, sage ich. »Sie haben sie entdeckt und für ein Wunder gehalten.«
    Viola verschränkt die Arme vor der Brust. »Bis sie herausgefunden haben, dass dieser Raum als Kirche doch nicht so praktisch war.«
    »Zu nass«, sage ich. »Und zu kalt.«
    »Ich wette, das war, kurz nachdem sie hier gelandet sind«, sagt sie und blickt hinüber zu der weißen Zeichnung. »Ich wette, es war noch im ersten Jahr. Alles war neu und verheißungsvoll.« Sie dreht sich um sich selbst, prägt sich alles ein. »Und dann hat die Wirklichkeit sie eingeholt.«
    Auch ich drehe mich langsam. Ich kann mir genau vorstellen, was die Menschen damals gedacht haben. Wie die Sonne die Wasserfälle beschien und den Fels in gleißendes Licht tauchte, wie alles laut und zugleich still war. Sogar ohne Kanzel und Bänke fühlte man sich wie in einer Kirche. Es war ein Ort, der schon heilig war, bevor ihn ein Mensch betreten hatte.
    Und dann sehe ich, dass es hinter den letzten Bänken nicht mehr weitergeht. Das Felsplateau endet hier, danach geht es steil in die Tiefe.
    Also müssen wir hier warten.
    Also müssen wir hier hoffen.
    In einer Kirche unter dem Wasser.
    »Todd Hewitt!«, hallt es schon viel weniger dumpf durch den Tunnel bis zu uns. Ich merke, dass Viola zittert.
    »Was machen wir jetzt?«, fragt sie.
    »Wir warten, bis es Nacht ist«, antworte ich. »Dann schleichen wir uns nach draußen und hoffen, dass er uns nicht sieht.«
    Ich setze mich auf eine Steinbank. Viola setzt sich neben mich. Sie streift die Tasche über den Kopf und stellt sie auf dem steinernen Boden ab.
    »Was, wenn er den Pfad entdeckt?«, fragt sie.
    »Lass uns hoffen, dass das nicht passiert.«
    »Aber wenn doch?«
    Ich greife hinter mich und hole das Messer hervor. Das Messer.
    Wir beide starren es an, das weiße Wasser blitzt auf der Klinge, die Feuchtigkeit sammelt sich bereits als Tröpfchen darauf und lässt es aufleuchten wie eine kleine Fackel.
    Das Messer.
    Wir sagen kein Wort, sehen es nur an, wie es mitten in einer Kirche glänzt.
    »Todd Hewitt!«
    Viola blickt zum Eingang und schlägt die Hände vors Gesicht. Ich sehe, wie sie die Zähne zusammenbeißt.
    »Was will er überhaupt?«, bricht es plötzlich aus ihr hervor. »Wenn es die Armee nur auf dich abgesehen hat, was will er dann von mir? Weshalb hat er auf mich geschossen? Ich verstehe das alles nicht.«
    »Verrückte brauchen keine Gründe«, sage ich.
    Aber in meinem Lärm sehe ich plötzlich vor mir, wie er Viola im Sumpf opfern wollte. Das »Zeichen«, so hat er sie genannt.
    Ein Gottesgeschenk.
    Ich weiß nicht, ob Viola das gehört hat, oder ob sie sich selbst gerade daran erinnert hat, denn sie sagt: »Ich glaube nicht, dass ich das Opfer bin.«
    »Wie bitte?«
    Sie dreht sich zu mir um und sieht mich ein wenig ratlos an. »Ich glaube nicht, dass ich es bin«, wiederholt sie. »Er hat mich fast die ganze Zeit lang in tiefem Schlaf gehalten, und wenn ich doch einmal aufgewacht bin, habe ich andauernd wirre Dinge in seinem Lärm

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