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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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sie hat ein Gewehr und das ist noch immer auf uns gerichtet.
    »Du bist aus Prentisstown weggelaufen, stimmt’s?«, fragt sie und liest wieder meinen Lärm. Es hat keinen Zweck, es zu leugnen, also ergreife ich die Flucht nach vorn und lasse sie wissen, wovor wir weggelaufen sind, was an der Brücke passiert ist und wer uns auf den Fersen war. Sie sieht alles, ich weiß, dass sie es sieht, aber ich sehe nur, wie sie die Lippen zusammenpresst und kurz blinzelt.
    »Nun gut«, sagt sie, senkt die Waffe und kommt langsam von dem Felsen herab auf uns zu. »Wohl wahr, ich kann meine Wut darüber nicht verhehlen, dass ihr meine Brücke abgebrannt habt. Ich habe den Knall sogar noch auf meiner Farm gehört, oh ja.« Sie bleibt nicht weit entfernt von uns stehen, ihre ausgeprägte, erwachsene Stille erfasst mich mit solcher Wucht, dass ich ein paar Schritte zurücktrete, obwohl ich das gar nicht will. »Aber, wohl wahr, der einzige Ort, den man über diese Brücke erreichen konnte, ist schon seit mindestens zehn Jahren keinen Besuch mehr wert. Ich habe die Brücke stehen lassen, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben wollte.« Sie mustert uns wieder. »Wer will mir das verdenken?«
    Wir strecken die Arme noch immer in die Höhe, denn diese Frau macht ja einen eher verworrenen Eindruck.
    »Ich frage euch nur einmal«, spricht die Frau weiter und hebt die Waffe. »Werde ich dieses Ding hier brauchen?« Viola und ich werfen uns einen Blick zu.
    »Nein«, antworte ich.
    »Nein, Madam«, antwortet Viola.
    Madam? Hat sie das wirklich gesagt?
    »Das ist so ähnlich wie ›Sir‹, mein guter Junge.« Die Frau hängt das Gewehr mit dem Riemen über die Schulter. »Wohl wahr, so und nicht anders hat man eine Lady anzusprechen.« Sie bückt sich zu Manchee hinab. »Und wie heißt du wohl, mein Kleiner?«
    »Manchee !«, bellt er.
    »Oh ja, keine Frage, so heißt du, nicht wahr?«, sagt die Frau und krault ihn kräftig. »Und ihr beiden?«
    Viola und ich sehen einander an. Es widerstrebt uns, unsere Namen preiszugeben, aber vielleicht ist es ja ein fairer Tausch dafür, dass sie ihre Waffe weggenommen hat.
    »Ich bin Todd. Das ist Viola.«
    »Ja, wohl wahr, so heißt ihr, und das ist so wahr, wie die Sonne am Morgen aufgeht«, antwortet die Frau, die Manchee dazu gebracht hat, sich auf den Rücken zu legen, damit sie seinen Bauch kraulen kann.
    »Gibt es noch einen anderen Weg über diesen Fluss?«, frage ich. »Oder noch eine Brücke? Denn diese Männer ...«
    »Ich bin Mathilde«, unterbricht mich die alte Frau, »aber nur Leute, die mich nicht kennen, nennen mich so, ihr könnt also Hildy zu mir sagen, und eines Tages dürft ihr mir vielleicht sogar die Hand schütteln.«
    Ich blicke Viola fragend an. Woher soll man wissen, ob jemand, der keinen Lärm verbreitet, verrückt ist oder nicht?
    Die alte Frau kichert in sich hinein. »Du bist ein ulkiges Kerlchen, Junge.« Sie steht wieder auf, und Manchee wälzt sich auf den Bauch und starrt sie ergeben an. Er ist ihr schon verfallen. »Und um deine Frage zu beantworten: Ein paar Tagreisen flussaufwärts ist eine flache Furt, aber Brücken gibt es hier meilenweit nicht, weder flussaufwärts noch flussabwärts.«
    Ihr Blick ist ruhig und heiter, um ihre Lippen spielt ein Lächeln. Bestimmt liest sie wieder meinen Lärm, aber bei ihr fühle ich mich nicht ganz so ausgesetzt wie bei den Männern.
    Und so, wie sie mich anschaut, wird mir allmählich einiges klar, und ich fange an, mir die Dinge zusammenzureimen. Prentisstown wurde also wegen des Lärmerregers unter Quarantäne gestellt. Denn hier ist eine erwachsene Frau, die nicht daran gestorben ist, die mich freundlich, aber reserviert behandelt, eine Frau, die jeden, der aus meiner Gegend kommt, mit der Waffe in der Hand empfängt.
    Wenn ich also andere anstecken kann, dann hat Viola sich bestimmt schon angesteckt, und sie könnte sterben, womöglich noch während wir uns hier unterhalten, und dann heißt das, dass ich wahrscheinlich in dieser Siedlung alles andere als willkommen bin und man mir ganz sicher sagen wird, dass ich einen möglichst weiten Bogen um den Ort machen soll, und das ist wahrscheinlich das Ende meiner Reise. Sie endet, noch ehe ich einen Ort gefunden habe, an den ich flüchten könnte.
    »Wohl wahr, man wird dich in der Siedlung nicht mit offenen Armen empfangen«, sagt die Frau. »So viel ist sicher.Aber«, sie zwinkert mir zu, sie zwinkert mir tatsächlich zu, »wenn niemand etwas weiß, kann auch niemand etwas

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