Die Flucht
hinter dem Gewehr. »Was fällt euch zwei Frischlingen ein, meine Brücke abzufackeln?«
14
Das falsche Ende des Gewehrs
»Gewehr! Gewehr! Gewehr!«, bellt Manchee und hüpft aufgeregt hin und her.
»Ich an deiner Stelle würde den Kleinen da lieber beruhigen«, sagt die Stimme hinter dem Gewehr, das Gesicht dazu ist kaum zu erkennen. »Wäre doch schade, wenn ihm gerade jetzt was passiert, oder?«
»Ruhig, Manchee!«, befehle ich ihm.
Er blickt mich an. »Gewehr, Todd?«, bellt er. »Peng, peng!« »Ich weiß. Halt die Klappe.«
Er hört auf zu bellen und ist ruhig.
Abgesehen von meinem Lärm ist es ruhig.
»Ich bin mir sicher, dass ich einem ganz bestimmten Paar Frischlingen eine Frage gestellt habe«, sagt die Stimme, »und ich warte noch immer auf eine Antwort.«
Ich schaue mich nach dem Mädchen um. Es zuckt die Achseln, denn wir beide haben die Hände bereits oben. »Was denn?«, frage ich das Gewehr.
Die Stimme lässt ein ärgerliches Grunzen hören. »Ich habe, wohl wahr, gefragt, wer euch die Erlaubnis erteilt hat, anderer Leute Brücken abzubrennen?«
Ich schweige.
Auch das Mädchen sagt nichts.
»Haltet ihr das Ding hier etwa für einen Stecken?« Die Mündung hüpft auf und ab.
»Sie sind hinter uns her«, sage ich, weil mir sonst nichts einfällt.
»Hinter euch her, was ihr nicht sagt!«, ertönt die Stimme hinter dem Gewehr. »Und wer genau?«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ist es gefährlicher, die Wahrheit zu sagen als zu lügen? Gehört die Stimme hinter dem Gewehr zu den Verbündeten des Bürgermeisters? Würde er uns ausliefern? Hat der bewaffnete Mann überhaupt jemals etwas von Prentisstown gehört?
Wenn man zu wenig weiß, ist die Welt ein gefährliches Pflaster.
Wenn man zum Beispiel nicht weiß, warum es so ruhig ist.
»Oh, wohl wahr, von Prentisstown hab ich schon gehört«, sagt die Stimme hinter dem Gewehr und ihr Besitzer liest mit nervtötender Leichtigkeit in meinem Lärm. Der Abzugshahn klickt wieder. »Wenn du tatsächlich von dort kommst ...«
Da mischt sich das Mädchen ein, es sagt etwas, weswegen es in meinen Gedanken plötzlich zu »Viola« wird und »das Mädchen« verschwindet.
»Er hat mir das Leben gerettet.«
Ich habe ihr das Leben gerettet.
Sagt Viola.
Komisch, nicht wahr?
»Hat er das?«, fragt das Gewehr. »Und woher weißt du, dass er es nicht nur gerettet hat, um es für sich zu haben?«
Das Mädchen, Viola, schaut zu mir, runzelt die Stirn. Jetzt bin ich es, der die Achseln zuckt.
»Aber nein.« Die Stimme hinter dem Gewehr ändert plötzlichihren Tonfall. »Nein, wohl wahr, für so einen halte ich dich nicht. Stimmt’s, Junge? Du bist ja noch ein Frischling, nicht wahr?«
Ich schlucke. »In neunundzwanzig Tagen werde ich ein Mann sein.«
»Nichts, worauf du dir was einbilden könntest, Kleiner. Jedenfalls dort, wo du herkommst.«
Und dann lässt er das Gewehr sinken.
Und jetzt weiß ich, warum es so ruhig ist.
Er ist eine Frau.
Er ist eine erwachsene Frau.
Er ist eine alte Frau.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du mich als ›sie‹ bezeichnen würdest«, sagt die Frau, sie hält die Waffe auf Brusthöhe und zielt auf uns. »Und ich bin immer noch jung genug, um auf euch zu schießen.«
Sie mustert uns aufmerksam, betrachtet mich von Kopf bis Fuß, liest meinen Lärm, wie es nur Ben konnte. Dabei schneidet sie alle möglichen Grimassen, als wollte sie mich auf die Probe stellen; so wie Cillian immer das Gesicht verzog, wenn er aus meinem Lärm herausfiltern wollte, ob ich log. Aber diese Frau verströmt nicht das kleinste bisschen Lärm, keine Ahnung, was in ihr vorgeht, vielleicht singt sie gerade ein Lied.
Dann betrachtet sie Viola schweigend.
»Wie das so ist bei Frischlingen«, sagt sie zu mir gewandt, »dich kann man so einfach lesen wie ein Neugeborenes, mein Junge.« Dann blickt sie zu Viola hinüber. »Aber du, meine Kleine, deine Geschichte ist keine gewöhnliche, nicht wahr?«
»Ich erzähle dir gerne meine Geschichte, wenn du endlichaufhörst, mit dem Gewehr auf uns zu zielen«, antwortet Viola gelassen.
Dieser Querschuss kommt so überraschend, dass sogar Manchee aufblickt. Ich starre Viola mit offenem Mund an.
Von oben hören wir ein Kichern. Die alte Frau lacht in sich hinein. Ihre Kleider sehen aus, als wären sie aus schmutzigem Leder, ungezählte Jahre lang getragen, zerknittert, dazu ein breitkrempiger Hut und Stiefel, die schmutzig werden dürfen. Sie sieht aus wie ein einfacher Farmer.
Aber
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