Die Flucht
dagegen haben.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sage ich.
Sie dreht sich um und klettert die Felsen auf demselben Weg empor, auf dem sie gekommen ist. Wir folgen ihr mit unseren Blicken, bis sie oben angelangt ist und sich umdreht.
»Worauf wartet ihr noch?«, ruft sie, als hätte sie uns eingeladen mitzukommen und wir ließen sie nur unnötig warten.
Viola ruft hinauf: »Sollen wir mit in die Siedlung kommen?« Dann sieht sie mich von der Seite an. »Egal, ob wir willkommen sind oder nicht?«
»Oh, ihr werdet schon noch zur Siedlung kommen«, antwortet die Frau, »aber was ihr beiden Frischlinge zuerst braucht, ist ein gutes Bett und eine ordentliche Mahlzeit. Das sieht selbst ein Blinder.«
Der Gedanke an ein Bett und warmes Essen ist sehr verlockend. So vergesse ich für einen Moment völlig, dass diese Frau uns vor Kurzem noch eine Waffe vor die Nase gehalten hat. Aber nur für einen Moment. Denn es gibt andere Sachen, über die ich mir jetzt den Kopf zerbrechen muss. Deshalb treffe ich eine Entscheidung für uns beide.
»Wir sollten auf der Straße bleiben«, sage ich leise zu Viola.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wohin wir gehen«, flüstert sie zurück. »Du etwa?«
»Ben hat gesagt ...«
»Ihr Frischlinge kommt mit auf meine Farm, esst etwas Anständiges, schlaft in einem Bett, das sicher nicht weich ist, das kann ich euch versprechen, und morgen in der Frühegehen wir in die Siedlung.« Sie spricht das Wort irgendwie seltsam aus, so als würde sie sich über uns lustig machen. Wir rühren uns nicht vom Fleck.
»Betrachtet die Sache mal von der anderen Seite«, sagt die alte Frau. »Ich habe ein Gewehr.« Sie fuchtelt damit in der Luft herum. »Aber ich bitte euch höflich mitzukommen.«
»Warum gehen wir nicht einfach mit?«, raunt Viola mir zu. »Nur, um mal zu sehen.«
Vor Überraschung wird mein Lärm ein bisschen lauter. »Um was zu sehen?«
»Ich hätte ein Bad nötig«, sagt sie. »Und ein bisschen Schlaf wäre auch gut.«
»Mir geht’s auch nicht viel besser«, erwidere ich. »Aber uns verfolgen Männer, die sich von einer eingestürzten Brücke kaum aufhalten lassen werden, und außerdem wissen wir nichts über diese Frau. Sie könnte ebenso gut eine Mörderin sein.«
»Ich glaube, sie ist in Ordnung.« Viola blickt zu der Alten hinauf. »Ein bisschen verrückt vielleicht, aber ich habe den Eindruck, als ob ihre Verrücktheit ungefährlich ist.«
»Sie macht überhaupt keinen Eindruck.« Ich bin, ehrlich gesagt, ein wenig verärgert. »Leute ohne Lärm machen überhaupt keinen Eindruck.«
Viola schaut mich an, sie hat die Augenbrauen hochgezogen und ihr Mund ist verkniffen.
»Ich habe nicht von dir geredet«, sage ich schnell.
»Jedes Mal ...«, fängt sie an, aber dann schüttelt sie nur den Kopf.
»Was ist jedes Mal?«, flüstere ich, aber Viola kneift unwillig die Augen zusammen.
»Vergiss es«, sagt sie ungehalten. »Gib mir lieber meine Sachen.«
»Hey!«, rufe ich. Schon vergessen, dass ich einer ganz bestimmten Person das Leben gerettet habe? »Warte einen Augenblick. Wir müssen der Straße folgen. Wir müssen in die Siedlung.«
»Eine Straße ist nie der schnellste Weg, um anzukommen«, sagt die Frau. »Wusstest du das nicht?«
Viola runzelt die Stirn und sagt kein Wort. Schweigend nimmt sie ihre Tasche. Sie ist bereit mitzugehen; sie ist bereit, der ersten lärmfreien Person zu folgen, die sie hier getroffen hat; sie ist bereit, mich zurückzulassen, wenn der Erstbeste sie herbeiwinkt.
Und sie übersieht das Wichtigste, weil es genau das ist, was ich kaum über die Lippen bringe.
»Ich kann nicht gehen, Viola«, sage ich leise zwischen zusammengebissenen Zähnen und ich hasse mich selbst ein wenig dafür. Mein Gesicht wird ganz heiß, was dazu führt, dass eines der Pflaster herunterfällt. »Ich trage den Bazillus in mir. Ich bin eine Gefahr.«
Sie blickt mich an und ihre Stimme klingt scharf. »Dann solltest du vielleicht besser nicht mitkommen.«
Ich stehe da, mit offenem Mund, und kann’s nicht fassen. »Das könntest du tun? Du könntest einfach gehen?«
Viola weicht meinem Blick aus, aber ehe sie antworten kann, spricht die alte Frau.
»Kleiner«, sagt sie, »wenn du Angst hast, dass du ansteckend bist, dann kann deine Freundin mit der guten alten Hildy ein Stück vorausgehen, und du bleibst ein paar Schritte zurück, und das Hündchen passt auf dich auf.«
»Manchee!«, bellt Manchee.
»Soll mir recht sein«, sagt Viola, dreht
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