Die Flucht
sich um und klettert die Felsen hoch zu der alten Frau.
»Und ich hab’s dir schon einmal gesagt«, ruft die Frau zu mir herunter. »Ich bin Hildy und nicht ›die alte Frau‹ . «
Viola steht jetzt neben ihr, und sie gehen weg, verschwinden wortlos aus meinem Blickfeld, einfach so.
»Hildy«, sagt Manchee zu mir.
»Halt die Schnauze«, sage ich zu ihm.
Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als den beiden hinterherzuklettern.
So machen wir uns auf den Weg, auf einem viel schmaleren Pfad, über Geröll und durch Gestrüpp, Viola und Hildy bleiben dicht beisammen, Manchee und ich trotten in großem Abstand hinter ihnen her, stolpern wer weiß welcher neuen Gefahr entgegen, und ständig blicke ich über die Schulter zurück, erwarte jeden Moment, den Bürgermeister, Prentiss junior und Aaron zu sehen, die uns auf den Fersen sind.
Ich weiß es nicht. Woher soll ich es auch wissen? Wie konnten Ben und Cillian davon ausgehen, dass ich auf so etwas vorbereitet sein würde? Sicher, der Gedanke an ein Bett und ein warmes Essen ist so verlockend, dass man sich gerne dafür erschießen lassen würde, aber vielleicht ist die Einladung ein Hinterhalt und wir sind so dumm, dass wir es nicht besser verdienen, als hineinzutappen.
Nicht zu vergessen die Leute, die hinter uns her sind und vor denen wir schleunigst davonlaufen sollten.
Aber vielleicht gibt es wirklich keinen anderen Weg, um über den Fluss zu kommen.
Außerdem, Hildy hätte uns zwingen können, aber sie hat esnicht getan. Und Viola meint, dass sie in Ordnung ist, und vielleicht kann ja eine Person ohne Lärm in den Gedanken einer anderen Person ohne Lärm lesen?
Also. Woher soll ich es wissen?
Und überhaupt, wen interessiert es, was Viola sagt?
»Schau dir die da oben an«, sage ich zu Manchee. »Sie sind sich ja schrecklich schnell einig geworden. Als würden sie sich schon seit ewigen Zeiten kennen.«
»Hildy«, sagt Manchee. Ich will ihm einen Klaps auf den Rücken geben, treffe aber seinen Kopf.
Viola und Hildy unterhalten sich, aber ich höre nur hie und da ihr Murmeln. Ich weiß überhaupt nicht, worüber sie sprechen. Wären sie ganz normale, lärmende Menschen, dann würde es keine Rolle spielen, wie weit ich hinter ihnen hergehe, wir könnten uns unterhalten und keiner von uns könnte Geheimnisse vor den anderen haben. Alles würde ausgeplaudert, ob wir es wollten oder nicht.
Und keiner würde ausgelassen. Niemand würde bei der erstbesten Gelegenheit allein gelassen.
Wir laufen weiter und weiter.
Ich fange an, mir noch mehr Gedanken zu machen.
Und ich lasse die Entfernung zwischen ihnen und mir größer werden.
Und ich mache mir noch mehr Gedanken.
Denn mit der Zeit wird der Kopf klarer.
Jetzt, wo wir Hildy gefunden haben, kann sie sich vielleicht um Viola kümmern. Sie passen gut zusammen. Sie sind ganz anders als ich. Und vielleicht kann Hildy ihr helfen, dorthin zurückzukehren, wo sie herkommt, denn das kann ich ganz bestimmt nicht. Offenbar gibt es für mich keinen anderen Ort,an dem ich leben kann, als Prentisstown. Denn ich trage einen Bazillus in mir, der Viola töten wird, der sie noch immer töten kann, der jeden, dem ich begegne, töten kann; einen Krankheitskeim, der es mir vielleicht für immer unmöglich macht, einen Fuß in diese Siedlung zu setzen; der es mir noch nicht einmal erlaubt, in Hildys Scheune zwischen den Schafen und den Kartoffelvorräten zu schlafen.
»Das war’s, nicht wahr, Manchee?« Ich bleibe stehen, meine Brust krampft sich zusammen. »Hier draußen gibt es keinen Lärm, außer jemand bringt ihn hierher.« Ich wische mir ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »Es gibt keinen Ort, wohin wir gehen könnten. Wir können nicht weiter. Wir können nicht umkehren.«
Ich setze mich auf einen Felsbrocken und plötzlich stürzt die ganze Wahrheit auf mich ein.
»Für uns gibt es keinen Platz«, sage ich. »Wir haben gar nichts.«
»Habe Todd«, sagt Manchee und wedelt mit dem Schwanz. Das ist nicht fair.
Das ist einfach nicht fair.
Der einzige Ort, an den man gehört, ist ein Ort, zu dem man nie wieder zurückkehren kann.
Und so ist man immer alleine, immer und ewig.
Warum hast du das gemacht, Ben? Was habe ich denn Schlimmes verbrochen?
Ich wische mir mit dem Arm über die Augen.
Ich wünschte, Aaron und der Bürgermeister kämen. Ich wünschte, es wäre alles schon vorüber.
»Todd?«, bellt Manchee. Er hält mir seine Schnauze vors Gesicht und schnüffelt an mir.
»Lass mich in
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