Die Flüchtende
sich in direkter Linie weitervererbt hatte. Als Erwachsene hatte Sibylla sich schon manchmal gefragt, ob sie diese Fähigkeit wohl auch besitze und nur noch nie die Gelegenheit gehabt habe, sie zu nutzen.
Jetzt war sie elf Jahre alt, saß unbemerkt auf der Treppe und belauschte das Gespräch ihrer Eltern.
«Die Cousinen und Cousins verstehen kaum, was sie sagt. Sie lachen über sie. Dem kann ich sie nicht aussetzen.»
Henry Forsenström sagte nichts darauf.
Womöglich las er gerade in seinen Papieren.
«Sie spricht ja einen breiteren Dialekt als das schlimmste Arbeitergör!», fuhr ihre Mutter fort.
Sie hörte ihren Vater seufzen.
«Das ist doch nicht verwunderlich», erwiderte er in noch breiterem Smaländisch. «Sie ist schließlich hier aufgewachsen.»
Beatrice Forsenström schwieg eine Weile. Obwohl Sibylla sie nicht sehen konnte, wusste sie genau, wie ihre Mutter in diesem Moment aussah.
«Ich halte es jedenfalls für das Beste, wenn sie zu Hause bleibt... Da kann ich auch die Gelegenheit wahrnehmen und ein wenig ausgehen. Mama hat gesagt, am nächsten Freitag sei Premiere von La Traviata.»
«Natürlich. Mach nur, was du willst.»
Und das tat ihre Mutter auch.
Sibylla hatte nie wieder nach Stockholm reisen dürfen, und als sie das nächste Mal dorthin kam, geschah es unter völlig anderen Umständen.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, spürte sie im ganzen Körper, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich in dem Häuschen eingeschlossen und wollte weg. Der Ofen war ausgegangen und sie fror, aber zum Glück ging es ihrem Hals etwas besser. Am Abend zuvor hatte sie schon befürchtet, dass sie eine Mandelentzündung bekommen haben könnte, eine Mandelentzündung, die mit Penizillin behandelt werden müsste. Es war nicht leicht, ohne Patientenkärtchen zum Arzt zu gehen, und sie wäre dankbar, wenn es sich vermeiden ließe.
Besonders jetzt, da sie womöglich nach ihr suchten.
Außerdem war sie hungrig. Sie aß ihr letztes Brot, hatte aber nichts zu trinken. Die Cola hatte sie zum Abendessen ausgetrunken. Die Tomate und der letzte Apfel durften das Frühstück abrunden.
Sie machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken. Sorgfältig räumte sie den Messingleuchter und die Schale weg, in die sie ihre Früchte gelegt hatte. Nachdem sie die Polster weggepackt hatte, sah sie sich um, ob alles seine Ordnung hatte, schwang sich den Rucksack auf die Schultern und öffnete die Tür. Die Hand noch auf der Klinke, zögerte sie.
Angst war ein Gefühl, das sie schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.
Der Rucksack glitt ihr wieder von den Schultern und sie machte die Tür zu.
Verdammt noch mal . Reiß dich jetzt zusammen!
Sie zog einen der Sprossenstühle heran, sank darauf nieder und barg den Kopf in den Händen. Weinen, damit hatte sie aufgehört. Vor langem schon hatte sie eingesehen, dass es nichts half. Ließ man sie nur in Ruhe und ließ man sie nur für sich selbst sorgen, glaubte sie nicht einmal einen Grund dafür zu haben. Nur einen einzigen. Aber der war so tief in ihrer Seele verborgen, dass der Schmerz selten nach außen drang. Das Essen für den Tag war es, was ihre Gedanken beschäftigte. Und wo sie die nächste Nacht verbringen würde. Alles andere musste hintanstehen.
Und dann hatte sie ja das Geld.
Sie legte die Hand auf die Brust, wo, unter ihrer Kleidung verborgen, 29385 geheiligte Kronen in einem Brustbeutel steckten.
Bald hatte sie genügend beisammen. Sie würde damit einmal das Ziel erreichen, für das sie in den vergangenen fünf Jahren gekämpft hatte und das ihr die Kraft zum Weitermachen gegeben hatte. Der Entschluss, einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, ihr Leben zu verändern. Weiterzukommen. Ein Häuschen mit weißen Ecken. Irgendwo ein eigenes Heim, wo sie ihre Ruhe hätte und so leben könnte, wie sie es wollte. Vielleicht Gemüse anbauen. Ein paar Hühner haben. Wasser könnte sie aus dem Brunnen holen. Es war kein Luxus, wovon sie träumte, bloß eigene vier Wände, zu denen außer ihr niemand Zutritt hätte.
Einfach Ruhe.
Sie hatte gesehen, dass 40 000 reichten, wenn man sich vorstellen konnte, irgendwo auf dem Lande abseits der großen Straßen und ohne Strom und fließendes Wasser zu leben.
Und von genau solch einem Ort träumte sie.
In Norrland oben wäre es sicherlich möglich, noch billiger wegzukommen, aber sie fürchtete, mit den langen Wintern nicht zurechtzukommen. Lieber kämpfte sie noch ein bisschen weiter.
In den vergangenen fünf Jahren
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