Die Flüchtende
hatte sie von dem Gnadengeschenk ihrer Mutter jeden Monat so viel wie möglich beiseite gelegt. Und war das Geld erst in dem Brustbeutel gelandet, dann existierte es nicht mehr. Mochte sie noch so hungrig sein.
Noch ein paar Jahre, dann hätte sie genügend beisammen.
Sie holte die Scheine hervor und legte sie sternförmig vor sich auf den Tisch. Sie ging immer zur Bank und tauschte die neu hinzugekommenen gegen frische und glatte ein.
Die ihre Mutter noch nicht angefasst hatte.
Nachdem sie die Scheine ein Weilchen betrachtet hatte, fühlte sie sich wieder besser. Es half wie gewöhnlich. Der nächste Schritt, ihren Kampfgeist wiederzugewinnen, war ein Besuch bei der Schwedischen Immobilienvermittlung. Man musste über die Immobilienpreise schließlich auf dem Laufenden bleiben.
Sie sammelte ihr Geld wieder ein, steckte es in den Brustbeutel zurück, schob, den Rucksack geschultert, den Stuhl unter den Tisch und trat leichteren Schrittes aus der Tür.
Sie kam bis zur Ringstraße. Als sie am Zeitungskiosk den aktuellen Aushang sah, fiel wieder alle Hoffnung von ihr ab.
Jetzt galt es nicht mehr, nur den Tag zu überleben.
Jetzt galt es zu fliehen.
Frau wegen bestialischen Mordes per Haftbefehl gesucht
Das war die Schlagzeile.
Unter dem Text aber war ein Bild. Und ein Name.
Sibylla Forsenström, 32.
« Liebe Sibylla, nun guck doch nicht so! Kannst du nicht wenigstens versuchen zu lächeln?»
Wohl erzogen, wie sie damals war, hatte sie es versucht, allerdings mit einem verheerenden Ergebnis. Wie immer sie in der Sekunde zuvor geguckt haben mochte, dies hier musste eine Verschlechterung gewesen sein. Das musste auch ihre Mutter so empfunden haben, denn sie konnte sich nicht erinnern, das Foto jemals gesehen zu haben. Der Pony war am Mittelscheitel mit einem Lockenstab gewellt worden und lief an den Schläfen in kleinen Spitzen aus. Ihr eingeschüchterter Blick sprach Bände.
Ihr war jetzt schlecht.
Neunzehn Kronen hatte sie noch. Die Zeitung kostete acht.
Der Polizei ist bei ihren Ermittlungen im Fall des bestialischen Mordes an dem 51-jährigen Jörgen Grundberg gestern Nacht im Grand Hotel ein Durchbruch gelungen. Unter Verdacht steht die 32-jährige Sibylla Forsenström, die Frau, die - Expressen berichtete darüber - am Donnerstagabend mit dem 51-Jährigen zusammen gesehen wurde. Gegen sie wurde nun in Abwesenheit Haftbefehl erlassen. Der Portier, der am Donnerstag im Grand Hotel Nachtdienst hatte, teilte der Polizei erst jetzt mit, dass der 51-Jährige das Zimmer der Frau persönlich gebucht hatte, und zwar unter einem falschen Namen, wie sich bei einer Kontrolle herausstellte. Der 32-Jährigen war es am Freitagmorgen gelungen, die polizeilichen Absperrungen zu umgehen, sie ließ aber einiges Beweismaterial zurück. Wie aus zuverlässiger Quelle verlautet, trug sie an dem Abend eine Perücke, die im Hotelzimmer sichergestellt wurde. Ferner hat die Polizei eine Aktentasche gefunden, die derselben Quelle zufolge eventuell die Mordwaffe enthält. Zur Art der Waffe möchte die Polizei keine Angaben machen.
Mit Hilfe der Fingerabdrücke auf der Aktentasche gelang es der Polizei, Sibylla Forsenström zu identifizieren. Ihre Fingerabdrücke befanden sich auch auf der Schlüsselkarte des Opfers, ferner entdeckte man in ihrem Zimmer ein Glas mit Jörgen Grundbergs Fingerabdrücken. Die 32-Jährige gibt der Polizei Rätsel auf. 1985 ist sie aus einem Krankenhaus in Südschweden entlaufen, in dem sie wegen psychischer Probleme behandelt wurde. Seitdem hat sie mit keiner Behörde mehr in Kontakt gestanden. Wo sie sich in den vergangenen vierzehn Jahren aufgehalten hat, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bekannt. Ihre Fingerabdrücke waren nach einem Autodiebstahl und Fahrens ohne Führerschein im Jahre 1984 von der Polizei erfasst worden. Die 32-Jährige wuchs in einem wohlhabenden Elternhaus in einem kleineren Hüttenindustrieort im östlichen Smäland auf. Seit '85 ist die Frau ohne festen Wohnsitz, und die Polizei richtet deshalb an die Bevölkerung die dringende Bitte, Informationen bezüglich ihres Aufenthaltsortes weiterzugeben. Gleichzeitig erlässt die Polizei eine Warnung vor der Frau, da zu befürchten ist, dass sie verwirrt und gewaltbereit sein könnte. In der zurückgelassenen Aktentasche befand sich ein Kalender, der zurzeit von den Kriminalpsychologen der Polizei ausgewertet wird. Die unzusammenhängenden Eintragungen in dem Buch scheinen den Angaben zufolge den verwirrten Zustand der Frau zu
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