Die Flüchtende
die Zeitung zu lesen und ich ... ich wohne gleich da drüben. Ich habe vor einem halben Jahr ebenfalls meinen Mann verloren und würde so gern mit jemandem, der wirklich weiß, wie das ist, ein Weilchen darüber reden.»
Die Frau sah so aus, als würde sie die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Sie wirkte nicht besonders wohlwollend. Sibylla setzte noch eins obendrauf.
«Sie scheinen ein ganz unglaublich starker Mensch zu sein», fuhr sie fort. «Ich würde wirklich viel darum geben, wenn ich ein Weilchen reinkommen und mit Ihnen reden dürfte.»
Das Letzte war nicht einmal gelogen, und vielleicht hatte diese Nuance bewirkt, dass das Kompliment verfing. Die Frau trat einen Schritt in die Diele zurück und bat sie herein.
«Kommen Sie herein. Wir können uns ins Wohnzimmer setzen.»
Sibylla nahm die Treppe mit einem Schritt und trat in die Diele. Sie beugte sich hinunter, um ihre Schuhe auszuziehen, und standauf etwas, was wie ein echter Teppich aussah. Neben ihr stand ein bombastischer Schirmständer aus dunkelgrünem Metall.
In der Wand zwischen der Diele und dem Wohnzimmer war ein bogenförmiger Durchbruch gemacht worden. Lena Grundberg war vorgegangen und Sibylla sah sich um, während sie ihr folgte. Sie bereute es, dass sie sich im Zug geschminkt hatte, und fuhr sich mit der Hand über die Lippen, um möglichst viel von ihrem Lippenstift zu entfernen. Die Frau vor ihr hatte ein tadelloses Make-up, und Sibylla merkte instinktiv, dass es besser wäre, wenn sich Frau Grundberg ihrem ungebetenen Gast gegenüber überlegen fühlen könnte.
Sie war diesem Typ Frau schon früher begegnet.
Das Wohnzimmer war so geschmacklos, dass sie sich verzweifelt nach etwas umsehen musste, was sie loben könnte. Sie entdeckte den einzigen Gegenstand, der nicht direkt abstoßend war.
«Was für ein schöner Kachelofen!»
«Danke», entgegnete Lena Grundberg und setzte sich in einen ochsenblutfarbenen Ledersessel. «Bitte, nehmen Sie Platz.»
Sibylla ließ sich auf das riesige Ledersofa nieder. Sie betrachtete verwundert den Glastisch vor sich. Das Gestell bestand aus einer weiteren Marmorfrau, sie lag auf dem Rücken und balancierte die Glasplatte auf ihren hochgereckten Knien und Händen.
«Jörgen importierte Marmor», erklärte Lena Grundberg. «Unter anderem», fügte sie hinzu.
Bereits Vergangenheit. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Frau Grundberg schien ihre Gedanken erraten zu haben.
«Ich kann gleich vorweg sagen, dass unsere Ehe nicht besonders glücklich war. Wir waren im Begriff, uns scheiden zu lassen.»
Sibylla ließ das auf sich wirken.
«Wie bedauerlich!»
«Auf meine Initiative hin.»
«Ach so. Aha.»
Es wurde still im Zimmer. Sibylla war ein wenig verwirrt. Was
hatte sie hier eigentlich erreichen wollen? Das wollte ihr im Moment einfach nicht einfallen.
«Wie lange sind Sie schon verwitwet?»
Die Frage kam so plötzlich, dass Sibylla zusammenzuckte. Aus irgendeinem Grund sah sie auf die Uhr. Die war wieder stehen geblieben.
«Sechs Monate und vier Tage», brachte sie schließlich hervor.
«Und woran ist er gestorben?»
«An Krebs. Es ist sehr schnell gegangen.»
Lena Grundberg nickte.
«Waren Sie glücklich zusammen?»
Sibylla senkte den Blick und betrachtete ihre Hände. Sie war froh, dass sie sich die Nägel nicht lackiert hatte.
«Ja, sehr», antwortete sie leise.
Es war ein Weilchen still.
«Das ist schon ziemlich komisch», sagte Frau Grundberg. «Vor gut einem Jahr erst wäre Jörgen beinahe an Nierenversagen gestorben. Er lag mehrere Monate lang im Krankenhaus. Jetzt hatten sie endlich festgestellt, dass alles in Ordnung war, er musste nur regelmäßig seine Medikamente einnehmen. Im Großen und Ganzen war er aber gesundgeschrieben.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Und dann wird er umgebracht! Nach all den Beschwerlichkeiten. Es klingt vielleicht zynisch, aber das ist wirklich typisch für ihn.»
Sibylla konnte nur mit Mühe ihre Verwunderung verbergen.
«Wie meinen Sie denn das?»
Frau Grundberg schnaubte.
«Er konnte nie seine Finger zurückhalten. Wie dumm muss man eigentlich sein, dass man eine unbekannte Frau mit aufs Zimmer nimmt! Hässlich war sie obendrein. Wenn man sich ihr Foto anschaut, ist doch schon von weitem zu erkennen, dass die nicht bei Sinnen ist.»
Ganz ruhig jetzt.
«Sie scheinen verbittert zu sein?»
Sibylla versuchte neutral zu klingen.
«Ach was! Ich finde nur, er hätte einen etwas besseren Geschmack an den Tag legen können. Es wäre in der
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