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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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akzeptieren können? Wie konnte man je verlangen, geliebt zu werden, wenn man jemandem so viel Schmerz bereitet hatte?
    Nachdem sich der Minutenzeiger ganz gemächlich vier Runden um das Zifferblatt gedreht hatte und Sibylla vor Anstrengung fast bewusstlos war, kamen sie herein und steckten noch einmal die Finger in sie. Jetzt war es so weit. Sie hatte sich zehn Zentimeter weit geöffnet. Sie mussten falsch gemessen haben. Ihr Körper war aufgelöst. Er hielt nicht mehr zusammen.
    Sie wurde auf einen Gebärstuhl gesetzt und, die Beine weit gespreizt und ihren Unterleib offen der Umwelt dargeboten, angewiesen zu pressen.
    Sie versuchte es ihnen recht zu machen, aber wenn sie ihnen gehorchte, würde sie gänzlich zerspringen. Vom Kinn bis zum Genick. Sie bat und bettelte, von diesem Schmerz verschont zu werden, aber sie standen ebenfalls im Dienst dieser Kraft. Sie würden sie nicht davonkommen lassen.
    Und dann sagten sie plötzlich, dass der Kopf zu sehen sei. Sie müsse jetzt versuchen dagegenzuhalten.
    Ein Kopf. Sie sahen einen Kopf. Es kam ein Kopf aus ihr heraus.
    Noch einmal, Sibylla, dann ist es geschafft. Plötzlich waren im Zimmer Kinderschreie zu hören und der ungestüme Schmerz klang ab. Verließ sie genauso plötzlich, wie er gekommen war.
    Sie wandte den Kopf und erhaschte einen Blick auf ein dun-kelhaariges Köpfchen, das auf dem Arm einer Schwester zur Tür hinaus verschwand.
    Der Minutenzeiger rückte weiter. So regelmäßig, als ob alles so wäre wie immer.
    Es war soeben ein Mensch aus ihr herausgekommen.
    Ein kleiner Mensch mit einem kleinen Kopf mit dunklen Haarsträhnen.
    Ohne Erlaubnis hatte er in ihr zu wachsen begonnen und ohne Erlaubnis hatte er sich jetzt herausgesprengt, um sie zu verlassen.
    Den Kopf schwer an die Rückenlehne gelegt und die Beine noch immer auf dem Gebärstuhl gespreizt, sah sie den Minutenzeiger einen Schritt in der Zeit weiterrücken.
    Und sie fragte sich, warum nie jemand sie um Erlaubnis gebeten hatte.
    Auf dem kalten Dachboden vergingen die Tage und Nächte. Die großen Zeiger bewegten sich Runde um Runde um das weiße Zifferblatt.
    Sie hatte einen Duschraum gefunden, zu dem man keinen Schlüssel brauchte, und sie schlich sich jede Nacht dorthin. Stand lange unter dem warmen Strahl. Langsam taute das Wasser sie auf, aber gegen die Verzagtheit konnte es nichts ausrichten.
    Im ersten Impuls hatte sie packen und verschwinden wollen, sobald ihr unverhoffter Gast gegangen war. Doch wohin sollte sie gehen?
    Ratlos und aus purer Erschöpfung war sie geblieben. Sie hatte keine Lust mehr. Mochte kommen, was wollte!
    Als extra Vorsichtsmaßnahme hatte sie ihre Sachen trotzdem woandershin getan und sich hinter den Schornstein gelegt. Dadurch hatte sie es zwar weiter bis zur Tür, aber sie könnte wenigstens nicht mehr derart überrumpelt werden.
    Am dritten Tag kam er wieder. Sie hörte die Tür auf- und zugehen, lag mucksmäuschenstill und horchte.
    « Sylla?»
    Das war er. Sie entspannte sich etwas. Aber sie konnte die Tür nicht sehen und wusste deshalb nicht, ob er allein war.
    «Sylla. Ich bin es, Lapsus ... Patrik. Bist du da?»
    Sie lugte hinter dem Schornstein hervor. Seine Miene erhellte sich, als er sie entdeckte. Er war allein.
    «Mann. Ich habe schon befürchtet, dass du weitergezogen bist.»
    Sie seufzte und stand auf.
    «Ich wollte schon, aber freie Schlafplätze gibt es nicht wie Sand am Meer.»
    Erst jetzt sah sie, dass er eine Isomatte unterm Arm trug und einen voll gepackten Rucksack geschultert hatte.
    «Wohin des Wegs?»
    « Hierher.»
    « Hierher?»
    «Ja. Ich wollte heute Nacht hier pofen, wenn du nichts dagegen hast.»
    Sie schüttelte resigniert den Kopf.
    «Warum denn?»
    «Super. Ich möchte wissen, wie das ist.»
    Sie seufzte und sah sich um.
    « Das ist kein Spiel, Patrik. Ich schlafe nicht hier, weil ich das so toll finde.»
    «Warum machst du es dann eigentlich?»
    Sie spürte einen winzigen Stich Gereiztheit.
    «Weil ich im Moment sonst nirgendshin kann.»
    Er setzte den Rucksack ab. Offensichtlich hatte er das Gefühl, sie überzeugen zu müssen, denn im nächsten Moment hatte er eine Tüte mit Gegrilltem in der Hand.
    «Spareribs. Magst du die?»
    Sie konnte nicht umhin, ihn anzulächeln. Er hatte sogar eine Bestechung parat! Nun hielt er den Kopf schräg und wiederholte seine Frage:
    «Ich kann doch heute Nacht hier schlafen?»
    Sie machte eine ausholende Armbewegung.
    «Nun, ich kann dich kaum daran hindern. Was sagen denn deine Eltern dazu,

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