Die Flüchtende
weinte, liegen lassen würde.
Dieser Entschluss machte sie mutiger, sie schob behutsam die Hände unter seinen kleinen Körper und hob ihn hoch. Ganz, ganz nahe bei sich hielt sie ihn und war bis ins Innerste ihres Wesens von dem Wissen durchdrungen, dass es genau so sein sollte.
Er schlief noch immer, sie atmete seinen Duft ein und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Sie hielt ihr Kind in den Armen.
Jetzt war sie nicht mehr allein.
Die Tür ging auf.
«Was machen Sie da?»
Sie rührte sich nicht vom Fleck.
Die Schwester, die ihr früher am Tag zum Zimmer des Arztes geholfen hatte, kam zu ihr her.
«Sibylla. Legen Sie das Kind wieder hin. Kommen Sie, wir gehen jetzt zu Ihrem Bett zurück.»
«Das ist mein Sohn.»
Die Frau wurde unsicher. Sie streckte die Hände vor, um ihn ihr abzunehmen. Sibylla kehrte ihr den Rücken zu.
«Ich denke nicht daran, ihn herzugeben.»
Sie spürte die Hand der Frau auf ihrer Schulter und wollte sie mit einem Ruck abschütteln, aber die Bewegung weckte das Kind in ihren Armen auf. Es quäkte auf und sie strich ihm beruhigend über den Kopf.
«Mein Kleiner. Die Mama ist doch da.»
Die Frau ging jetzt hinaus. Sibylla legte die Hand unter sein
Köpfchen und hielt ihn etwas von sich weg. Jetzt waren seine Augen offen. Kleine dunkelblaue Augen, die etwas suchten, woran der Blick Halt finden konnte.
Im nächsten Moment waren sie da. Zu viert diesmal. Ein Mann war dabei und er ging direkt auf Sibylla zu und erhob die Stimme.
«Sie legen sofort das Kind wieder hin.»
«Er ist mein Kind.»
Der Mann zögerte einen Moment und zog dann einen Stuhl heran.
«Setzen Sie sich.»
«Nein, danke. Ich kann nicht sitzen.»
Eine der anderen trat hinzu.
«Sibylla. Das nützt doch nichts. Sie machen es nur noch schlimmer.»
«Inwiefern denn?»
Die Leute im Zimmer sahen sich der Reihe nach an. Eine ging wieder hinaus.
«Sie wissen doch, dass vereinbart wurde, das Kind zur Adoption freizugeben. Er wird es richtig gut haben. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.»
«Ich habe überhaupt nichts vereinbart. Ich werde ihn behalten.»
«Es tut mir Leid, Sibylla, ich verstehe ja, dass es schwer ist, aber da können wir nichts machen.»
Sie fühlte sich nun bedrängt. Sie wären zu dritt und die Vierte kam sicherlich gleich wieder zurück. Womöglich mit noch mehr Widersachern. Sie waren gegen sie. Alle gehörten sie dem anderen Lager an. Alle, außer dem Kind, das sie in den Armen hielt.
Sie beide gegen die Welt. Sie würde ihn nie verlassen.
«Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen», sagte der Mann und schob den Stuhl beiseite. «Entweder legen Sie ihn freiwillig hin oder wir müssen Sie dazu zwingen.»
Ihr Herz klopfte heftig.
Sie würden ihn ihr wieder wegnehmen.
«Bitte! Ich bin doch seine Mutter. Das wissen Sie doch. Sie können ihn mir nicht wegnehmen. Es ist alles, was ich habe.»
Nun weinte sie. Sie zitterte am ganzen Körper und vor ihr drehte sich alles. Sie schloss die Augen.
Nicht wieder krank werden. Nicht krank werden.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war alles zu spät.
Der Mann hielt ihren Sohn in den Armen und war schon auf dem Weg zur Tür hinaus. Zwei der anderen Weißbekittelten packten sie an den Armen, als sie hinterherlaufen wollte. Sie hörte die Schreie ihres Sohnes im Flur verschwinden.
Sie sollte ihn nie wieder sehen.
Kotz! Durften die das?» Sie antwortete nicht. Sie fragte sich, was sie zum Erzählen gebracht hatte. Das war noch nie vorgekommen. Der Verlust hatte wie ein Glassplitter in ihr gescheuert, der ständig in Bewegung war und die Wunde offen hielt, aber ihre Trauer in Worte gefasst, das hatte sie noch nie.
Vielleicht machte sie das, weil er in ungefähr demselben Alter sein musste wie ihr Sohn. Vielleicht weil alles so war, wie es war.
Hoffnungslos.
Nichts mehr, was sie für sich behalten musste.
«Und dann? Was war dann?»
Sie schluckte. Die Erinnerung daran hatte sie so lange versucht zu vergessen.
«Ich wurde eingewiesen. War fast ein halbes Jahr lang in einer Nervenheilanstalt eingesperrt. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin abgehauen.»
«Wie ... Warst du so was wie geisteskrank?»
Sie vermochte nicht zu antworten. Es war eine Weile still.
«Wie abgehauen? Bist du ausgebrochen?»
«Ja. Ich glaube allerdings nicht, dass sie lange nach mir gesucht haben. Ich war ja nicht gerade gemeingefährlich.»
Jetzt war das anders.
« Deine Mutter und dein Vater? Was haben die denn
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