Die Flüchtende
sie in die Entbindungsstation hinaufgeschoben. Eins der Betten im Zimmer war leer, doch in den anderen vier lagen frisch entbundene Mütter mit ihren Kindern. Alle begrüßten sie freundlich, als sie hineingeschoben wurde. Ihr Bett wurde nahe ans Fenster gestellt, und wenn sie sich auf die Seite drehte, musste sie die anderen nicht sehen, doch die Geräusche konnte sie nicht ausblenden.
Neben ihr am Fenster hingen blau gestreifte Gardinen, an deren unterem Rand sich eine kleine Franse gelöst hatte.
Niemand fragte etwas. Alle waren vollauf mit sich beschäftigt.
Neugeborene Kinder.
Ihr Bauch war noch immer groß. Aber er war jetzt leer. Das spürte sie deutlich. Sie hatte sich danach gesehnt, sich auf den Bauch legen zu können, aber das war nach wie vor ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem taten ihr die Brüste weh.
Nach ungefähr einer Stunde wurde sie geholt. Sie halfen ihr dabei, sich aufzusetzen und sich dann auf den Fußboden zu stellen. Das Gehen tat weh. Die Stiche, mit denen sie, wie man ihr erzählt hatte, genäht worden war, spannten und brannten.
Jetzt durfte sie mit dem Arzt sprechen. Sie zog es vor zu stehen, als er ihr anbot, sich auf seinen Besucherstuhl zu setzen; er nickte und begann in der braunen Mappe zu blättern.
«Nun. Das ist ja gut gegangen.» Sie sah ihn an.
Als sie nichts sagte, blickte er auf, blätterte aber dann weiter. «Wie fühlen Sie sich jetzt?» Leer. Hohl. Verbraucht. Verlassen. «Was ist es?»
Er hob den Blick und sah sie an.
«Wie?»
«Was es ist, ein Mädchen oder ein Junge?» Er war sichtlich verwirrt. Schließlich war er es, der hier die Fragen stellte. «Ein Junge.» Er las weiter.
Ein Junge. Sie hatte einen kleinen Jungen mit dunklem Haar zur Welt gebracht.
« Kann ich ihn sehen?»
Er räusperte sich. Ganz offenbar hatte sich dieses Gespräch nicht so entwickelt, wie er gehofft hatte.
«Nein, wir haben da unsere Gewohnheiten. Das hat sich in solchen Fällen als ungünstig erwiesen. Es ist vor allem Ihretwegen.»
Ihretwegen.
Warum wurde sie nie gefragt, was das Beste für sie sei? Wie kam es, dass alle anderen das immer besser wussten als sie selbst?
Er hatte das Gespräch so schnell wie möglich beendet. Als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, lächelten sie wieder alle Mütter an. Mit Hilfe einer Schwester legte sie sich ins Bett und kehrte allen den Rücken zu.
In der nachmittäglichen Besuchszeit strömten Väter und Geschwister herein, die ihre neuen Familienmitglieder bewunderten. Niemand schien von ihrem Rücken Notiz zu nehmen.
Es wurde Nacht. Nur die Mutter im Bett neben ihr schlief. Die anderen wurden von ihren Kindern wach gehalten. Sie hörte sie miteinander plaudern. Er hat den Darm noch nicht entleeren können, deshalb schreit er so. Ich verstehe das nicht, sie will nur die eine Brust nehmen. Schau nur, wie schön er ist.
Sie stand vorsichtig auf. Wenn sie sich seitwärts aufrichtete, tat es, nur kurz bevor sie die Füße auf den Boden setzte, weh.
Auf dem Flur war niemand.
Sie ging am Fenster des Schwesternzimmers vorbei, wurde aber von niemandem bemerkt.
Der nächste Raum war das Säuglingszimmer. Sie öffnete behutsam die Tür. Das Zimmer war leer, lediglich in der Mitte stand einer von diesen Plastikkästen auf Rädern, wie ihn die Mütter in ihrem Zimmer hatten.
Ihr Herz pochte. Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich und trat einen Schritt näher.
Ein kleines Köpfchen. Ein kleines Köpfchen mit schwarzen Haaren. Sie spürte, wie sie zitterte. Jetzt stand sie an dem kleinen Bett und las die Personennummer, die über dem Köpfchen notiert war.
Es war ihr Kind, das dort lag.
Ihr Sohn.
Sie schlug die Hände vor den Mund, um nicht laut zu wimmern.
Er war in ihr gewachsen, war ein Teil von ihr gewesen. Und jetzt lag er ganz allein da.
Allein und verlassen.
Er war so winzig. Er lag auf der Seite und schlief, und sein Köpfchen war so klein, dass es in ihre Handfläche passte.
Vorsichtig strich sie mit dem Zeigefinger über das dunkle Haar. Er zuckte leicht zusammen und holte schluchzend Luft, so als ob er geweint hätte. Sie beugte sich vor und legte ihre Nase an sein Ohr.Plötzlich brach alles über sie herein.
Nie im Leben durften sie das tun! Das war ihr Kind und sie konnten sie eher umbringen, als sie zwingen, ihn herzugeben. Mit einem Mal wusste sie, dass sie ihn nie im Stich lassen würde, was immer auch passieren mochte. Ihn nie wieder verlassen und allein in einem Plastikwagen, in dem er sich in den Schlaf
Weitere Kostenlose Bücher