Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
Vom Netzwerk:
gesagt?»
    «Ja, du. Die haben nur gesagt, dass ich nicht mehr bei ihnen wohnen könne. Dass ich volljährig sei und allein zurechtkommen müsse.»
    «Kotz. Diese Schweine!»
    Ja.
    «Und dann? Was hast du dann gemacht?»
    Sie wandte den Kopf und sah ihn an.
    «Bist du immer so neugierig?»
    «Ich habe noch nie mit jemand Obdachlosem gequatscht.»
    Sie seufzte und richtete den Blick wieder zur Decke. Höre und lerne.
    «Zuerst landete ich in Växjö. Ich hatte Todesangst, dass mich jemand finden und in die Heilanstalt zurückschicken würde. Ich irrte wohl ein paar Monate lang oder so da herum, hauste in Kellern und aß, was ich fand.»
    «Wie alt warst du da?»
    «Eben erst achtzehn geworden.»
    «Drei Jahre älter wie ich.»
    «Als ich.»
    Er drehte den Kopf und sah sie an.
    «Was?»
    «Das heißt älter als ich.»
    Sie hörte, wie er schnaubte.
    «Mann! Warst du in der Schule Klassensprecherin oder was?»
    Sie lächelte im Dunkeln. Nein. Das war sie nie gewesen. Sie war nie gewählt worden.
    «Nein, aber ich war gut in Grammatik.»«Warum hast du dir nie einen Job besorgt?»
    «Ich habe mich nie getraut zu sagen, wie ich heiße. Falls jemand meinen Namen kannte. Ich habe immer geglaubt, ich würde gesucht.»
    Dieses Wort katapultierte sie wieder in die Gegenwart. Was trieb sie da eigentlich? Es war höchste Zeit, das Gespräch zu beenden.
    « Gute Nacht.»
    Er richtete sich auf einen Ellbogen gestützt auf.
    «Nein», rief er enttäuscht. «Du kannst doch jetzt nicht aufhören!»
    Sie legte sich zurecht, das Gesicht dem Schornstein zugewandt.
    «Es ist gleich elf Uhr und ich bin müde. Gute Nacht.»
    «Ja aber, wie bist du denn in Stockholm gelandet? Kannst du nicht wenigstens das noch sagen?»
    Sie seufzte und drehte sich wieder um. Der weiße Schein der Lampen, die das Zifferblatt beleuchteten, wurde auf den Dachboden zurückgeworfen, doch in den Ecken war es kohlschwarz.
    «Lass es mich mal so sagen. Wenn ich du wäre, dann würde ich diesen Fernsehjob anpeilen. Wenn ich alles, was ich in diesen Jahren gesehen und erlebt habe, erzählen würde, dann könntest du heute Nacht nicht schlafen.»
    Sie verstummte und versuchte die richtigen Worte zu wählen. Wie weit war sie bereit, sich zu entblößen?
    Sie setzte sich auf.
    «Sechs Jahre sind so gut wie ausradiert. Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, was ich da getan habe. Wem ich begegnet bin. Wo ich geschlafen habe. Ich soff, was das Zeug hielt, nur um nicht denken zu müssen, denn wenn ich das getan hätte, wäre ich untergegangen. Hat man erst eine Zeit lang auf der Straße gelebt, sitzt man fest. Es führt kein Weg zurück, weil du die Fähigkeit verloren hast, dich anzupassen. Du willst dich auch gar nichtanpassen. Und damit ist der Kreis geschlossen. Hör auf den Rat von einer, die Bescheid weiß, Patrik. Egal, was du machst, lauf bloß nicht rum und quatsch einen Haufen Mist, dass du Penner werden willst. Du hast nämlich nicht die geringste Ahnung, was dabei Sache ist. Gute Nacht.»
    Sie legte sich wieder hin. Bei ihrer Suada hatte es sogar Patrik die Sprache verschlagen. Sie fragte sich, ob er tatsächlich die ganze Nacht über bleiben wollte. Womöglich war er jetzt sauer.
    Er war ruhig. Sie hörte, wie er sich bewegte, als er auf der dünnen Isomatte eine annehmbare Stellung zu finden versuchte, aber zu guter Letzt war es still auf dem Dachboden.
    Sie konnte keine Ruhe finden. Eine Erinnerung nach der anderen blitzte ihr hinter den Lidern auf. Mit all seinen Fragen hatte er Erlebnisse heraufbeschworen, die sie sorgfältig weggepackt hatte, um nur nicht daran denken zu müssen.
    Wie sie schließlich nach Stockholm getrampt war, in der Hoffnung, ein Auskommen zu finden. In der Masse zu verschwinden. Und dann langsam, aber sicher gemerkt hatte, dass es gar nicht so leicht war, ohne Geld oder Kontakte und vor allem ohne Namen Fuß zu fassen. So ängstlich, wie sie gewesen war, dass jemand sie finden und zwingen würde, in die Heilanstalt zurückzukehren. Als ob sich überhaupt jemand darum gekümmert hätte, dass sie verschwunden war! Sie traute sich nicht, ihre Personennummer zu benutzen. Dadurch war ihr der Weg zur Arbeitsvermittlung versperrt. Gelegentlich arbeitete sie schwarz als Tellerwäscherin, aber sobald jemand zu neugierig wurde, zog sie weiter. Und landete in Kreisen, in denen alle Spitznamen trugen und niemand Fragen stellte, außer vielleicht der, ob man etwas zu trinken habe.
    Und dann schließlich die vernichtende Demütigung, als sie

Weitere Kostenlose Bücher