Die Flüchtende
Sekunden den Blick von ihr ab, so als ob er einen Fluchtweg suche. Sie musste Zeit gewinnen. Es war durchaus nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Worte kamen ganz von allein und alles, was sie sich zurechtgelegt hatte, war wie weggeblasen.
« Dir ist ja wohl klar, dass ich keine Mörderin sein kann. Dann würdest du doch jetzt nicht hier sitzen? Ich hätte die ganze Nacht Zeit gehabt.»
Diese Worte waren schlecht gewählt. Sehr schlecht. Mit einer plötzlichen Bewegung versuchte er aufzustehen, um Reißaus zu nehmen, aber sein Schlafsack hinderte ihn daran.
F r durfte jetzt nicht gehen. Noch nicht.
- Nu war sie über ihm. Presste ihn auf die Isomatte und drückte ihm mit den Knien die Arme auf den Boden. Er atmete heftig und ihr wurde klar, dass er gleich weinen würde.
Verfluchte Scheiße!
«Bitte! Tu mir nicht weh.»
Sie schloss die Augen. Was, zum Teufel, trieb sie da?
«Dir ist doch klar, dass ich dir nichts tun werde, aber du musst mir jetzt zuhören. Ich sitze hier auf diesem verdammten Dachboden, weil jeder Bulle in ganz Schweden nach mir sucht. Die haben beschlossen, dass ich das war. Ich habe keine Chance. Das ist es, was ich gestern schon gesagt habe. Leute wie ich haben keine Rechte. Mensch, Patrik! Ich erzähle dir das, weil ich gedacht habe, dass ich mich auf dich verlassen könnte. Dass wenigstens du mir glauben würdest.»
Er hatte aufgehört zu weinen.
«Ich erzähle das, weil ich deine Hilfe brauche. Ich traue mich nicht einmal, einen Laden zu betreten.»
Er sah sie an. Aufgerissene, schreckensstarre Augen.
Sie seufzte.
«Verdammt nochmal. Entschuldige.»
Wenn sie jetzt jemand gesehen hätte! Rittlings auf einem armen wehrlosen Fünfzehnjährigen. Sie ließ ihn los und stand auf.
«Geh.»
Er lag reglos da. Er sah aus, als ob er sich kaum zu atmen traute.
«Hau endlich ab, sage ich!»
Er zuckte zusammen, als sie die Stimme erhob. Kroch aus seinem Schlafsack, stand auf und ging langsam zur Tür. Als ob er Angst hätte, dass sie wieder über ihn herfallen könnte.
«Ich brauche die Jacke.»
Er blieb sofort stehen und ließ die Jacke an Ort und Stelle auf den Fußboden gleiten. Dann ging er weiter; bei der Treppe angekommen, warf er sich gegen die Tür, und sie hörte ihn durch den Flur davonrennen.
Sie schloss die Augen und sank auf ihrer Isomatte zusammen.
Sie musste weg von hier.
Zuerst packte sie Patriks Sachen zusammen. Verstaute sie sorgfältig in seinem Rucksack und rollte seine Isomatte auf. Dann nahm sie sich ihre Sachen vor. Ein paar Minuten später hatte sie fertig gepackt.
An der Tür drehte sie sich um und sah nach der großen Uhr.
Tschüs.
Auf den Flur hinaus und die Treppe hinunter.
Als sie die Hand auf die Türklinke legte, zögerte sie. Allein das Öffnen der Tür zur Welt draußen bereitete ihr solches Unbehagen, dass ihr übel wurde. Diese ewige Angst richtete sie allmählich zugrunde.
Sie hatte einen Ausgang gewählt, der auf den Schulhof führte. Auf die Straße hinauszugehen traute sie sich nicht. Die Tür schlug hinter ihr zu. Jetzt konnte sie nicht wieder hinein.
Sie ging schräg über den Hof, um zum Vitabergspark zu gelangen. Wohin es dann gehen sollte, wusste sie nicht.
Als sie halb über dem Hof war, hörte sie jemanden rufen. Erschrocken blieb sie stehen und schaute sich nach einem Versteck um.
«Sylla! Warte!»
Da entdeckte sie ihn. Er tauchte hinter der Ecke zur Bonde- gatan auf und kam auf sie zugerannt. Sie blickte auf den Asphalt hinunter und wartete, bis er da war. Zuerst sagte er nichts. Sie ging weiter.
«Verzeih, dass ich dir nicht geglaubt habe, aber ich habe eine Mordsangst gekriegt.»
Sie drehte sich um. Ein neuer Ausdruck lag in seinen Augen. Ein Ernst, der vorher nicht da gewesen war. Patrik war außer Atem und sah zu Boden, als ob er sich für seine Angst schämte.
«Ist schon okay.»
Sie ging weiter.
«Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst», fuhr er fort.
Sie blieb nicht stehen. Sie schaffte es einfach nicht, noch einmal anzufangen. Er holte sie ein.
«Sylla. Ich habe beim Konsum die Aushänge gesehen.»
Sie drehte sich um und sah ihn an. Er zögerte ein wenig, und jetzt war es eindeutig er, der nach den passenden Worten suchte.
« Die glauben offensichtlich, dass du heute Nacht wieder jemand umgebracht hast.»
Bist du ganz sicher, dass er schläft?» «Ja», erwiderte er ungeduldig. «Er hat doch die ganze Nacht über gearbeitet. Vor eins wacht er nie auf.»
Ihr war trotzdem nicht wohl zumute.
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