Die Flüchtende
dem, der den Unschuldigen seines Rechtes beraubt. Sibylla.
Sie sah ihn an und er reichte ihr schnell das letzte Blatt. Ein Bild von einem Paar durchsichtiger Plastikhandschuhe. Nutex 8 stand in Druckschrift daneben.
«Solche benutzen sie im Krankenhaus.»
Sie nickte. Ja, dann war der Fall ja gelöst.
«Das ist alles, was ich kriegen konnte. Aber immerhin haben wir jetzt die Namen.»
«Und was sollen wir damit anfangen?»
Er drehte sich zu ihr, sodass seine Knie auf sie zeigten, und zögerte ein wenig, so als ob er nach Worten suchte.
«Weißt du, was ich finde?»
Ich habe wirklich keine Ahnung.
«Ich finde, du machst den Eindruck, als ob du aufgegeben hättest. Als ob du eigentlich gar nicht wolltest, dass dieser Fall gelöst wird. Als ob es dir scheißegal wäre, wie es läuft.»
«Und wenn schon? Wäre das denn so merkwürdig?»
«Wenn ich mich so verhalte, sagt mein Vater immer, dass ich nicht nur dasitzen und mir selber Leid tun soll. Dass ich lieber etwas gegen die Scheiße unternehmen soll.»
Ja. Dein Vater hat damit wirklich Erfolg gehabt.
« Gestern hast du noch davon geredet, wie missverstanden alle Penner und so sind, dass ihr keine Chance hättet und was sonst noch alles, aber jetzt, wo du eine Chance kriegst, nimmst du sie nicht wahr, verdammt nochmal!»
Er ereiferte sich jetzt richtig. Sie sah ihn mit neuem Interesse an. Ob er sie vor den Kopf gestoßen oder ihr heimgeleuchtet hatte, konnte sie noch nicht entscheiden, aber das, was er gesagt hatte, war völlig berechtigt.
«Okay.» Sie erhob sich. «Was soll ich jetzt tun, Chef?»
«Wir werden nach Västervik fahren.»
Sie starrte ihn an.
« Machst du Witze?»
«Nein. Ich habe das telefonisch abgecheckt. In einer halben Stunde geht ein Bus. Vierhundertsechzig Kronen hin und zurück. Du kannst sie dir von mir leihen. Wir sind um zwanzig vor fünf dort und haben dann zwei Stunden und zwanzig Minuten Zeit, bis der Bus zurückfährt.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Du spinnst wirklich.»
«Um Viertel nach elf sind wir wieder da.»
Sie griff nach dem letzten Strohhalm.
« Du musst vor zehn zu Hause sein.»
«Nein. Ich gehe nämlich ins Kino. Ich habe schon angerufen.»
Vor dem Fenster flog die Landschaft vorüber. Södertälje, Nyköping, Norrköping, Söderköping. Patrik studierte die Ausdrucke, die er bei der Polizei gestohlen hatte, als wäre irgendein verborgener Anhaltspunkt darin zu finden. Sibylla selbst starrte meistens aus dem Fenster.
Die Fahrkarten hatte sie selbst bezahlt. War in der Wartehalle zur Toilette gegangen und hatte dem Brustbeutel verstohlen einen Tausender entnommen. Als sie zurückkam, hatte Patrik als Proviant zwei Tüten Chips und eine Zweiliterflasche Cola gekauft, und als sie die Fahrscheine löste, hatte er mit großen Augen ihren Schein betrachtet.
Aber er hatte keine Fragen gestellt. Das war gut.
«Warum machst du das eigentlich?»
Er zuckte leicht die Schultern.
«Affengeil.»
So leicht würde sie nicht locker lassen. «Mal im Ernst. Hast du denn keine witzigeren Kumpel, dass du dich mit einer Zweiunddreißigjährigen herumtreiben musst?» «Bist du nicht älter?», fragte er grinsend. Sie antwortete nicht. Er musste ihr Alter schon zweihundert Mal in den Zeitungen gelesen haben. Sie betrachtete ihn weiterhin, und schließlich faltete er seine Zettel und steckte sie in die Innentasche seiner Jacke.
«Ich raffe nicht, was daran verkehrt sein soll, wenn man einfach gern für sich allein ist. Meine Eltern motzen auch ständig. Ich kann nichts dafür, dass ich Hockey und Fußball nicht mag. Mir ist es nun mal scheißegal, ob AIK oder Djurgärden schwedischer Meister wird.»
Sie nickte beschwichtigend. «Okay, okay. Ich habe ja nur gefragt.»
Sie starrte wieder aus dem Fenster und er wandte sich erneut seinen Zetteln zu.
Sören Strömberg 360207-4639
Sie waren zu seinen Angehörigen unterwegs. Sibylla erinnerte sich an den Besuch bei Lena Grundberg. Damals war sie noch voller Mut und Zuversicht gewesen. Jetzt war alles anders.
Der Bus war pünktlich, und um fünf nach halb fünf stiegen sie am Busbahnhof in Västervik aus. Patrik ging unverzüglich zum Zeitungskiosk und fragte nach dem Weg zur Siversgatan, wo laut seinen Papieren Sören Strömberg gewohnt hatte; Sibylla sah das Mädchen hinterm Kioskfenster zeigen und erklären.
Es war nicht weit. Sie brauchten kaum fünf Minuten zu Fuß.
Je näher sie kamen, umso unwohler war ihr zumute. Patrik trabte furchtlos und in Hochstimmung, als ob er
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