Die Flüchtlinge
„Wenn Laur nicht kommt, dann gehe ich! Ich will, daß Laur kommt!“
„Oh, Gütige Mutter!“ fluchte Mish. Von dem Lärm angelockt, kam Jes die Treppe hinunter, und Mish erteilte ihm den Auftrag, Laur zu benachrichtigen. Hart beruhigte sich daraufhin. Als Laur den Raum betrat, lief er rasch auf sie zu und nahm ihre Hand.
„Nun, Simit?“ fragte Jason.
„Es geht um Hart“, sagte der Lehrer bedrückt. „Ich weiß ja, daß es ungewohnt für ihn ist, zur Schule zu gehen, daß es neu für ihn ist.
Vielleicht hat er es ja auch nur vergessen. Ich will wirklich keine Staatsaffäre daraus machen.“
„Aber?“ warf Mish ein. Jes, der im Türrahmen lehnte, zwinkerte Hart erneut zu.
„Nun, wir hatten bis jetzt vier Unterrichtstage. Am ersten Tag hat er ganz teilgenommen. Am zweiten blieb er nur bis zum Mittag, am dritten sahen wir ihn nur kurz – und heute war er gar nicht da. Ich dachte, Sie könnten ihn vielleicht daran erinnern, daß er die Schule besuchen soll?“ Die Angelegenheit schien Simit äußerst peinlich zu sein.
Mish und Jason wandten sich um und sahen Hart an. Er versuchte hinter Laurs Rücken zu verschwinden, aber sie schob ihn in den Mittelpunkt des Raums. Quilla streckte einen Arm nach ihm aus, aber er wich aus.
„Hart, ich habe dich jeden Morgen an die Schule erinnert“, sagte Mish.
„Und jedesmal, wenn er zum Essen heimkommt“, fügte Laur hinzu, „bin ich es, die ihm sagt, daß er zur Schule zurückkehren soll.“
„Du hast mich also belogen, als du sagtest, du hättest deine Lektionen schon gelernt.“ Jason sah finster aus. Hart musterte ihn mit wachsendem Widerwillen.
„Ich brauche nichts zu lernen“, sagte er trotzig. „Ich kenne dieses ganze Zeug schon. Mehr als ich weiß, brauche ich nicht zu wissen. Ich kann andere Dinge tun, so wie Quilla, und die braucht auch nicht in die Schule zu gehen. Ich mag die anderen Kinder nicht. Ich kann sie nicht ausstehen. Ich bin ein Kennen. Ich brauche nicht in diese blöde Schule zu gehen!“
Seine Eltern schauten sich an. Jason wurde wütender, als Hart ihn je zuvor gesehen hatte. Ohne eine Warnung packte er sich seinen Sohn, legte ihn übers Knie und versohlte ihm, so fest er konnte, das Hinterteil. Hart heulte und schrie. Er fühlte sich verletzt und erniedrigt. Als sein Vater ihn schließlich losließ, zog er sich zurück. Seine Augen vergossen heiße Tränen, und seine Kehle schmerzte. Mish rief ihn beim Namen und breitete die Arme aus, aber er ignorierte sie.
„Ich hasse euch!“ stieß er mit sich überschlagender Stimme hervor. „Ich hasse euch alle! Hoffentlich sterbt ihr bald!“ Er spuckte auf den Teppich.
Laur packte ihn, wirbelte ihn herum und versetzte ihm eine solch gewaltige Ohrfeige, daß er beinahe das Gleichgewicht verlor.
„Du wirst deinem Vater gehorchen!“ schrie sie. „Und ich will nie wieder solche Worte aus deinem Mund hören! Sag deinen Eltern, daß es dir leid tut, und entschuldige dich für dein Betragen bei deinem Lehrer und Tabor! Und wehe, wenn du noch einmal die Schule schwänzt! Hast du mich verstanden? Ob du mich verstanden hast!“
Hart starrte sie schockiert und mit aufgerissenen Augen an, dann stolperte er hinaus. Niemand ging ihm nach.
6
Hart lehnte sich an das Fenster, hielt den Rahmen mit einer Hand gepackt und lauschte den Schritten, die sich ihm vom Korridor aus näherten. Vor seiner verschlossenen Tür verstummten sie. Dann drehte jemand leise an der Klinke.
„Hart?“
Es war Quillas Stimme.
„Hart? Laß mich rein.“
„Hau ab“, sagte er.
„Ich hab dir ein paar Pfannkuchen mitgebracht.“
„Ich will sie nicht.“
„Na komm schon, Schätzchen. Laß mich rein. Bitte.“
„Nein! Ich bin nicht dein Schätzchen! Ich will keinen von euch sehen!“
Als die Schritte sich wieder in Richtung auf den Korridor in Bewegung setzten, hielt er den Atem an. Dann drückte er die Stirn gegen das Glas. Quilla mischte sich überall ein; in Wirklichkeit aber war er ihr völlig gleichgültig. Wäre es nicht so gewesen, hätte sie ihn verstehen müssen, sich von den Flüchtlingen ferngehalten und für ihn Partei ergriffen. Sie war nicht besser als die anderen.
Wenn er sorgfaltig lauschte, konnte er die manchmal leiser und manchmal lauter werdenden Stimmen der anderen hören, die sich im Wohnzimmer über ihn unterhielten. Hart prügelte sie im Geiste mit einem Knüppel aus bitterem Haß. Es ist nichts Falsches daran, sie zu hassen, dachte er, denn sie hassen mich ja auch. Wenn sie
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