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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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Tatsächlich entdeckte ich den Erste-Hilfe-Kasten an der Wand über einer Auswahl von Feuerlöschgeräten. Der Kasten hatte eine beachtliche Größe, etwa wie ein Koffer, und bestand aus rotem Hartplastik. Er schien mir auch als Angriffswaffe recht brauchbar zu sein. Ich holte meine letzte Spritze heraus, ergriff den Erste-Hilfe-Kastenmit der anderen Hand und schlich mich in die Seitenkulissen. Als ich wieder freien Blick auf die Bühne hatte, war Lesley   – ich konnte es nicht ertragen, sie mir als Punch oder Henry Pyke vorzustellen   – bei einer Auflistung der Enttäuschungen angekommen, die Henry widerfahren waren. An den meisten Niederlagen gab er Charles Macklin die Schuld, der, wie er behauptete, sich ihm aus reiner Missgunst in den Weg gestellt habe und der ihn schließlich, als Henry ihn vor genau diesem Theater zur Rede stellen wollte, auf höchst grausame Weise nieder- und totgeschlagen habe.
    »Dafür hätte er hängen sollen!«, rief Lesley. »Und er hätte auch hängen sollen für den armen Thomas Hallum, den er im Theater Royal niedermachte. Aber er hat das Glück der Iren und die Gabe, sich aus jeder Lage herauszuquasseln.«
    In diesem Augenblick wurde mir klar, worauf Henry Pyke wartete. Charles Macklin war bis zu seinem Tod ein regelmäßiger Besucher des Theatre Royal gewesen. Der Legende zufolge war Macklins Geist bei zahlreichen Gelegenheiten auf seinem Lieblingssitz im Parkett gesehen worden. Henry Pyke versuchte offenbar, ihn hervorzulocken, aber ich glaubte nicht, dass sich Macklin blicken lassen würde.
    Lesley überquerte das Schiffsdeck und starrte angestrengt ins Parkett hinunter.
    »Zeige dich, Macklin!«, rief sie. Jetzt glaubte ich erstmals eine gewisse Unsicherheit in ihrer Stimme zu hören. Das Schiffsdeck war an den Seiten zu hoch, um hinaufzuklettern. Der einzige Zugang führte über die Treppe vorn in der Mitte, so dass ich keine Möglichkeit hatte,mich unbemerkt an Lesley anzuschleichen. Also würde ich wohl etwas richtig Dummes tun müssen.
    Ich trat kühn mitten auf die Bühne und machte sofort den ersten Fehler: Ich blickte ins Publikum. Ich konnte zwar nicht weit über die im Bühnenrand eingelassenen Scheinwerfer hinaussehen, aber doch weit genug, um mir plötzlich darüber klar zu werden, dass mich eine riesige Menschenmenge aus der undurchdringlichen Dunkelheit heraus anstarrte. Ich stolperte über meine eigenen Füße und musste mich an einer Kulissenkanone abstützen.
    »Was soll das?«, kreischte Lesley.
    »Ich bin Jack Ketch«, sagte ich, aber viel zu leise.
    »Gott bewahre mich vor Narren und Amateuren«, murmelte Lesley, dann kreischte sie wieder laut: »Was soll das?«
    »Ich bin Jack Ketch«, wiederholte ich, und dieses Mal hörte ich meine eigene Stimme über das Publikum schallen. Ein schwaches
Vestigium
kam zurück, das aber nicht von den Zuschauern ausging, sondern von der Substanz des Gebäudes. Das Theater erinnerte sich an Jack Ketch, den Scharfrichter von König Charles II., einen höchst sturen Mann und extrem inkompetenten Vertreter seines Fachs. Ketch verfasste sogar einmal eine Streitschrift, um sich gegen diesbezügliche Vorwürfe zu verteidigen, in der er behauptete, der Verurteilte Lord Russell sei allein schuld an seiner desaströsen Hinrichtung gewesen, weil er nicht ordentlich stillgehalten habe, während Ketch die Axt niedersausen ließ. Noch hundert Jahre nach seinem Tod galt Ketch als Synonym für einen Henker, Mörder und den Teufel höchstpersönlich, und wenn es je einen Namen gegeben hat, mit dem man prächtig zaubern konnte, dannlautete er Jack Ketch. Was wiederum seine Rolle in der Komischen Tragödie von Punch und Judy erklärte   – und warum er die beste Chance bot, so nahe an Lesley heranzukommen, dass ich die Spritze einsetzen konnte.
    »Ich danke Euch sehr, Mister Ketch, aber ich fühle mich hier sehr wohl«, sagte Lesley.
    Natürlich hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, den Text auswendig zu lernen, aber ich wusste genug, um improvisieren zu können. »Ihr müsst herauskommen«, rief ich. »Kommt heraus und lasst Euch hängen.«
    »Ihr wärt doch nicht so grausam?«, sagte Lesley.
    Ich wusste, dass es in dieser Szene noch eine Menge Geplänkel gab, aber da ich mich nicht an den Text erinnern konnte, kürzte ich diesen Abschnitt ab. »Dann muss ich Euch holen«, verkündete ich und stieg die Treppe hinauf auf das Schiffsdeck. Es fiel mir schwer, Lesley in das zerstörte Gesicht zu blicken, aber ich durfte das Risiko eines

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