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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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brachte. Ich griff mir einen Notenständer und versuchte sie damit auf Abstand zu halten, da begann das Orchester wieder zu spielen. Kaum erklangen die ersten Töne, als mich die beiden mordlustigen Musiker völlig vergaßen, nach ihren Instrumenten griffen, sich brav hinsetzten und erstaunlich würdevoll (wenn man bedachte, dass sie gerade einen akuten psychotischen Schub durchmachten) zu spielen begannen. Ich hörte das Ding, das in Lesleys Körper steckte, mit seiner entsetzlich schrillen Stimme singen:
     
    »Punch when parted from his dear,
    Still must sing in doleful tune.«
     
    Ich konnte nicht sehen, was Lesley tat, aber aufgrund des Gesangs nahm ich an, dass sie die Szene nachspielte, in der Punch vom Gefängnisfenster aus zuschaut, wie draußen sein Galgen errichtet wird. An beiden Seiten des Orchestergrabens befanden sich Türen, von dort aus musste man wohl irgendwie auf die Bühne gelangen können. Ich bahnte mir mit den Ellbogen den Weg zur nächstgelegenen Tür, begleitet von meinem ganz persönlichen kleinen Triumphmarsch aus Schmerzensschreien, Quieken, Fauchen und dem Klappern umstürzender Notenständer. Die Tür führte zu einem schmalen Durchgang, von dem völlig gleich aussehende Gänge nach rechts und links abzweigten. Da ich die Tür genommen hatte, die links zur Bühne führte, nahm ich an, dass ich hinter die Bühne gelangen würde, wenn ich noch einmal nach links abbog.Das stimmte auch, allerdings handelte es sich bei dem, was sich im Royal Opera House hinter der Bühne befand, nicht um eine normale Hinterbühne, sondern um eine Art Flugzeughangar: einen riesigen Raum mit hoher Decke, mindestens dreimal so groß wie die Hauptbühne, in dem man ohne Weiteres einen Zeppelin hätte parken können. Das gesamte Personal   – vom Inspizienten bis hin zu den Souffleuren und wer sonst noch außer Sichtweite des Publikums bei einer Aufführung hinter der Bühne herumwuselt   – hatte sich hinter den Seitenkulissen versammelt, offenbar vom selben Einfluss gebannt, den Henry Pyke auch auf das Publikum ausübte. Dass ich mich aus dieser Einflusszone entfernt hatte, verschaffte mir eine Atempause, um selbst abzukühlen und nachzudenken. Der Schaden war Lesley bereits zugefügt worden, und wenn ich ihr jetzt die Betäubungsspritze gab, würde ihr Gesicht einfach herunterfallen. Auf die Bühne zu rennen würde gar nichts bewirken, und möglicherweise gehörte es sogar zu Henry Pykes Rollenbuch, dass ich auf die Bühne stolperte. Ich drängelte mich durch das Bühnenpersonal und versuchte, so nahe wie möglich an die Bühne zu gelangen, ohne von dort aus gesehen zu werden.
    Sie hatten keinen Galgen aufgebaut, sondern ließen eine Schlinge von oben herunter, wie vom Ausleger eines Krans. Entweder war Henry Pyke noch besser organisiert, als ich gedacht hatte, oder zur heutigen Opernaufführung gehörte auch eine Henkerszene. Vermutlich aber erst, nachdem sie die Sache lang und breit besungen hatten.
    Lesley spielte immer noch die Rolle des Punch, der hinter dem vergitterten Fenster seinem Ende entgegenschmachtet. Allerdings folgte sie offenbar nicht mehrdem Piccini-Text, sondern erfreute das Publikum mit der Lebensgeschichte eines gewissen Henry Pyke, hoffnungsvoller Schauspieler, von seinen bescheidenen Anfängen in einem kleinen Dorf in Warwickshire bis hin zu seiner blühenden Londoner Bühnenkarriere.
    »Und war ich nun«, deklamierte Lesley, »kein ganz junger Mann mehr, aber dafür ein erfahrener Mime, denn meine von Gott verliehenen Gaben waren über die Jahre hinweg auf den harten und erbarmungslosen Brettern der Londoner Theaterwelt gereift.«
    Dass kein einziger der Bühnenangestellten auch nur kicherte, zeigte, wie stark der Bann war, unter dem sie standen. Nightingale hatte noch keine Anstalten gemacht, mir den Kurs »Bannsprüche für Anfänger« zuteil werden zu lassen, daher hatte ich keine Ahnung, wie viel Magie erforderlich war, um über zweitausend Leute in Bann zu schlagen, aber ich hätte wetten können, dass es nicht wenig war. Kurz schoss mir der Gedanke durch den Sinn, dass es für Lesley wahrscheinlich besser war, wenn ihr Gesicht herunterfiel, als wenn ihr Hirn verschrumpelte. Ich blickte mich um   – irgendwo musste es doch eine Erste-Hilfe-Ausrüstung geben. Dr.   Walid hatte mir erklärt, dass ich sterile Kochsalzlösung anwenden und ihr den Kopf vollkommen mit Bandagen verbinden müsse, wenn ich sie lange genug am Leben halten wollte, bis der Notfallwagen eintraf.

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