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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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dafür leisten?« In Geschichte hatte ich mich mal mit der Reform der Armengesetze befasst, daher wusste ich, dass Henry Pyke dieses Zeug entweder aus Lesleys Schulmädchenerinnerungen fischte oder während der letzten zweihundert Jahre täglich die
Daily Mail
gelesen hatte.
    »Und sind sie dankbar?«, fragte Lesley. Das Publikum murmelte eine Antwort. »Natürlich sind sie nicht dankbar!«, rief Lesley. »Denn sie haben sich daran gewöhnt, diese Dinge als ihr gutes Recht anzusehen.«
    Inzwischen stand oder vielmehr hing ich vor einem weiteren Problem: Ich schwang immer weiter über den Orchestergraben statt zur Seite der Bühne. Ich versuchte, den Schwung zu begradigen und zur Seite zu lenken, mit dem Ergebnis, dass eine achterförmige Schwingung daraus wurde. Immer noch fehlten mir mehrere Meter bis zur Gerüstplattform, deshalb setzte ich jetzt meinen gesamten Körper ein und benutzte die Beine als eine Art Schere, um den Abstand zu verringern.
    Plötzlich brüllte die Menge auf. Eine Welle aus Frustration und Wut überrollte mich wie aufgestaute Flut aus einem berstenden Damm. Im entscheidenden Augenblick verlor ich die Konzentration und krachte gegen die Stoffbespannung an der Seitenbühne. Ich ließ los und krallte mich in den schweren Stoff, versuchte dabei so viel Stoff zwischen die Beine zu bekommen, dass ich nicht auf die Bühne hinunterkrachen würde.
    Im selben Moment erloschen sämtliche Lichter. Sie brannten nicht Funken sprühend durch, sie flimmerten oder blitzten nicht auf, sie taten überhaupt nichts Theatralisches   – sie gingen einfach aus. Irgendwo in der komplizierten Beleuchtungsanlage des Royal Opera House waren durch das Aufwallen starker Magie ein paar Mikroprozessoren zu Sand zerfallen, vermutete ich. Wenn man praktisch nur noch an den Fingernägeln hängt, ist die Richtung nach unten tendenziell immer die richtige, also ignorierte ich die Schmerzen in meinen Armen, so gut es ging, und machte mich daran, an der Stoffverkleidung hinunterzurutschen. Aus dem Dunkel hörte ich keinerlei Anzeichen von Panik im Publikum, was unter diesen Umständen unheimlicher war als das Gegenteil.
    Ein weißer Lichtkranz erschien um Lesley wie von einem unsichtbaren Bühnenscheinwerfer. »Meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen«, rief sie. »Ich glaube, es ist Zeit nach draußen zu gehen und dort weiterzuspielen.«
    Einer der Onkel meiner Mutter hatte mal Tickets für ein Match von Arsenal gegen die Spurs in Highbury bekommen und hatte mich mitgenommen, weil sein eigener Sohn keine Zeit hatte. Wir saßen zwischen den Leuten, die Abonnements für die ganze Saison hatten, also den Hardcore-Fußballfans, die wegen der Fußballspiele hingingen und nicht wegen der Prügeleien. Wenn man in einer solchen Menschenmenge sitzt, fühlt man sich, als würde man von einer Flut erfasst   – man kann versuchen, sich dagegenzustemmen, wird aber doch unweigerlich mitgerissen. Fußballerisch gesehen war das Spiel ziemlich langweilig, und eigentlich sah alles nach einem Unentschiedenaus, als sich Arsenal in der Verlängerung noch einmal richtig aufbäumte. Als die Spieler in den gegnerischen Strafraum stürmten, stockte   – das würde ich beschwören   – dem gesamten Stadion, sechzigtausend Menschen, der Atem. Und als der Arsenalstürmer den Ball mitten ins Netz setzte, brüllte ich zusammen mit dem gesamten Stadion aus Leibeskräften. Es war vollkommen impulsiv und unkontrolliert.
    Genauso fühlte es sich jetzt an, als Henry Pyke das Publikum des Royal Opera House losschickte. Ich muss die letzten paar Meter hinuntergefallen sein, denn ich weiß nur, dass ich plötzlich auf der Bühne lag, dass ein heftiger Schmerz durch meinen Knöchel schoss und dass ich ein wahnsinniges Verlangen verspürte, jemandem die Fresse einzuschlagen. Ich kam auf die Füße und sah Lesley ins entstellte Gesicht.
    Ich zuckte zurück. Aus dieser Nähe war der Anblick noch schlimmer. Mein Blick glitt immer wieder von dieser grotesken Karikatur eines Gesichts weg. Neben und hinter ihr standen sämtliche Hauptdarsteller, allesamt Männer, alle höchst angespannt und alle, von dem jungenhaften Bariton abgesehen, wirkten sehr viel rauer, als man von Leuten erwarten würde, die ihren Lebensunterhalt tagtäglich mit der Hochkultur verdienten.
    »Alles okay mit dir?«, quäkte sie. »Du hast mir richtig Angst gemacht.«
    »Du hast versucht, mich zu erhängen«, sagte ich.
    »Peter«, sagte Henry Pyke, »ich wollte dich doch nicht töten.

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