Die Fluesse von London - Roman
Hinweise auf entsprechende Praktiken gefunden. Keine Bücher, keine Paraphernalien, kein
Vestigium
.«
»Könnte jemand seine Magie … hm, gestohlen haben?«, fragte ich. »Irgendwie aus seinem Gehirn gesaugt?«
»Das ist sehr unwahrscheinlich«, meinte Nightingale. »Es ist praktisch unmöglich, jemand anderem die magischen Kräfte zu stehlen.«
»Ausgenommen im Moment des Todes«, korrigierte ihn Dr. Walid.
»Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass unser Mr. Coopertown sich das hier selbst zufügte«, sagte Nightingale.
»Dann meinen Sie also, dass er während des ersten Überfalls gar keine Maske trug?«, fragte ich.
»Das ist anzunehmen«, antwortete er.
»Also wurde sein Gesicht schon am Dienstag zu Brei zerschlagen«, folgerte ich. »Was wiederum erklärt, warum sein Gesicht in den Aufzeichnungen der Buskameras so fleckig wirkt. Dann fliegt er nach Amerika, bleibt drei Nächte lang dort und kommt hierher zurück. Und die ganze Zeit läuft er mit einem praktisch zerstörten Gesicht herum.«
Dr. Walid dachte darüber nach. »Das würde nicht nur zu den Verletzungen passen, sondern auch mit den Anzeichen von neuem Wachstum um einige der Knochenfragmente.«
»Aber er hätte doch extremste Schmerzen gehabt!«, sagte ich.
»Nicht unbedingt«, meinte Nightingale. »Eine derGefahren des
Dissimulo
ist, dass Schmerzen überdeckt werden. Wer den Zauberspruch anwendet, hat möglicherweise keine Ahnung, dass er sich selbst verletzt.«
»Also, als sein Gesicht noch normal aussah, wurde es nur durch Magie zusammengehalten?«
Dr. Walid schaute Nightingale an. »Ja«, nickte der Inspector.
»Und wenn man einschläft, was geschieht dann mit dem Zauberspruch?«, fragte ich.
»Er würde vermutlich kollabieren«, sagte Nightingale.
»Aber wenn der Zauberspruch kollabierte, dann hätte bei seinen schweren Verletzungen sein Gesicht buchstäblich auseinanderfallen müssen. Also muss er ihn die ganze Zeit irgendwie aufrechterhalten haben, während er in Amerika war«, argumentierte ich. »Wollen Sie behaupten, dass er vier Tage lang ohne Schlaf auskam?«
»Das ist in der Tat etwas unwahrscheinlich«, meinte Dr. Walid.
»Funktionieren Zaubersprüche wie Software?«, fragte ich.
Nightingale blickte mich verständnislos an; Dr. Walid musste für ihn einspringen.
»Wie meinen Sie das?«
»Kann man dem Unbewussten einer Person befehlen, den Zauberspruch aufrechtzuerhalten?«, fragte ich. »Dann würde er weiter funktionieren, auch wenn die Person einschläft.«
»Das wäre theoretisch denkbar, aber moralisch bedenklich, und abgesehen davon glaube ich nicht, dass ich es könnte«, sagte Nightingale. »Ich glaube nicht, dass
irgendein
menschlicher Zauberer das könnte.«
Irgendein menschlicher Zauberer – okay. Dr. Walid und Nightingale schauten mich an und mir wurde plötzlich klar, dass sie selbst schon so weit gekommen waren und jetzt nur noch darauf warteten, dass ich sie einholte.
»Als ich Sie nach Geistern, Vampiren, Werwölfen fragte, sagten Sie, ich hätte nicht mal an der Oberfläche gekratzt – das meinten Sie wirklich im Ernst, nicht wahr?«
Nightingale nickte. »Ich fürchte, ja. Tut mir leid.«
»Scheiße«, sagte ich.
Dr. Walid lächelte. »Genau das habe ich damals vor dreißig Jahren auch gesagt.«
»Also: Wer oder was auch immer das dem armen alten Coopertown zufügte, war wahrscheinlich kein menschliches Wesen«, stellte ich fest.
»Ich könnte es nicht mit Sicherheit behaupten«, sagte Dr. Walid, »wäre aber bereit, darauf zu wetten.«
Danach taten Nightingale und ich das, was alle guten Bullen tun, wenn sie im Laufe des Tages mal eine freie Minute haben – wir suchten uns einen Pub. Gleich um die Ecke fanden wir den gnadenlos hochpreisigen Marquis of Queensbury, der im Nieselregen ein wenig schmuddelig wirkte. Nightingale spendierte mir ein Bier und wir setzten uns in eine Ecknische unter einen viktorianischen Druck, der einen Boxkampf mit bloßen Fäusten darstellte.
»Wie wird man denn Zauberer?«, fragte ich.
Nightingale schüttelte den Kopf. »Das läuft nicht so wie der Eintritt in die Met.«
»Jetzt bin ich aber überrascht. Wie läuft es dann?«
»Man macht eine Lehre«, erklärte er. »Und man gehteine Verpflichtung ein, gegenüber der Kunst, gegenüber mir, gegenüber dem Land.«
»Dann muss ich Sie also mit Sifu anreden?«
Damit hatte ich ihm zumindest ein Lächeln entlockt. »Nein. Sie müssen mich Meister
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