Die Fluesse von London - Roman
erst einmal klar war, dass ich nicht mehr einschlafen würde, stand ich auf und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Das Untergeschoss des Folly bestand aus einem Labyrinth von Räumen, die noch aus den Zeiten stammten, in denen das Haus Dutzende von Bediensteten aufzuweisen hatte, aber wenigstens wusste ich inzwischen, dass die Hintertreppe neben der Küche endete. Um Molly nicht zu stören, schlich ich so leise wie möglich hinunter, doch als ich unten ankam, sah ich, dass in der Küche Licht brannte. Als ich näher kam, hörte ich Toby erst knurren, dann bellen; zugleich war ein seltsames rhythmisches Zischen zu hören. Ein guter Polizist weiß, wann er seine Anwesenheit nicht hinausposaunen sollte, also schlich ich leise zur Küchentür und spähte hinein.
Molly, immer noch in ihrem Dienstmädchenoutfit, hockte auf einer Ecke des riesigen alten Eichentischs, der die halbe Küche ausfüllte. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Rührschüssel aus Keramik, und vor ihr, ungefähr drei Meter entfernt, saß Toby, aufrecht und mit gespitzten Ohren. Da Molly mir den Rücken zuwandte, bemerkte sie mich nicht. Ihre Hand tauchte in die Schüssel und sie hob einen Klumpen rohes Fleisch heraus – so roh, dass das Blut heruntertropfte.
Toby bellte vor Aufregung, während Molly ihn mit dem Fleischklumpen lockte, den sie ihm dann mit einer schnellen, geschickten Handbewegung zuschleuderte. Toby vollführte aus sitzender Position heraus einen eindrucksvollen Luftsprung und schnappte sich den Klumpen aus der Luft. Als sie Toby beobachtete, der sich wie wild um sich selbst drehte, während er das Fleisch verschlang,begann Molly zu lachen – das rhythmisch zischende Geräusch, das ich vorhin gehört hatte.
Molly nahm einen weiteren Klumpen Fleisch aus der Schüssel und wedelte damit vor Toby herum, der voller Vorfreude einen kleinen Tanz aufführte. Doch dieses Mal reizte sie ihn nur damit, wobei sie seine wachsende Verwirrung mit ihrem zischenden Gelächter begleitete, und als sie sicher war, dass er sie wie gebannt anstarrte, stopfte sie den blutroten rohen Fleischklumpen in ihren eigenen Mund. Toby bellte ärgerlich, aber Molly streckte ihm nur eine unnatürlich lange, bewegliche Zunge heraus.
Ich musste wohl unwillkürlich aufgekeucht haben, denn Molly sprang plötzlich von der Tischkante und wirbelte zu mir herum. Weit aufgerissene Augen, der Mund geöffnet, so dass scharfe Eckzähne zu sehen waren, Blut, das in hellroten Tropfen über ihre blasse Haut rann und vom Kinn tropfte. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und rannte mit beschämtem Gesichtsausdruck aus der Küche. Toby bedachte mich mit einem gereizten Knurren.
»Ich kann doch nichts dafür«, knurrte ich zurück. »Wollte mir nur was zu essen holen.«
Keine Ahnung, worüber er sich beschwerte – er bekam den ganzen Fleischrest aus der Schüssel. Und ich ein Glas Wasser. Ich hatte plötzlich keinen Hunger mehr.
5
Action – aus der Ferne
Von den Krämpfen und der eindeutigen Verbesserung der Kraft in meinen Händen abgesehen, verliefen meine Bemühungen, ein eigenes Werlicht zu produzieren, ziemlich frustrierend. Jeden Morgen führte mir Nightingale den Zauber vor, und jeden Morgen verbrachte ich anschließend bis zu vier Stunden damit, meine Hand auf diese ganz besondere Weise zu öffnen. Glücklicherweise wurde die Routine in der dritten Februarwoche unterbrochen: Lesley May und ich sollten als Zeugen gegen Celia Munroe aussagen, die den tätlichen Übergriff im Kino am Leicester Square begangen hatte.
Pünktlich um zehn erschienen wir im Gericht, in Uniform (denn die Amtsrichter mochten es nun mal, wenn ihre Polizeibeamten bei solchen Anlässen in Uniform auftauchten) und in der sicheren Gewissheit, dass der Fall mindestens bis 14 Uhr vertagt werden würde. Vorausschauende und ehrgeizige Constables wie wir hatten natürlich genügend Lesematerial dabei: Lesley schleppte die neueste Auflage von
Blackstones Handbuch der polizeilichen Praxis
mit, während ich mich für Horace Pitmans
Legenden des Themsetals
entschieden hatte, erschienen 1897.
Das Amtsgericht der City of Westminster befindet sich hinter der Victoria Station in der Horseferry Road, in einem schlichten, schachtelförmigen Bau aus den siebziger Jahren. Er ist dermaßen arm an architektonischen Qualitäten, dass man sogar eine Zeit lang erwog, ihn unter Denkmalschutz zu stellen, um ihn als abschreckendes Beispiel für die Nachwelt zu erhalten. Die Wartebereiche im
Weitere Kostenlose Bücher