Die Fluesse von London - Roman
hin. Sie war überraschend schwer, so dass ich sie beinahe fallen ließ. Aus der Tasche kam ein metallisches Klappern.
»Seien Sie vorsichtig«, warnte Nightingale.
Ich öffnete die Tasche und schaute hinein. Es befanden sich zwei Metallzylinder darin, ungefähr so groß wie Sprühdosen, aber viel schwerer. Sie waren weiß und trugen die Aufschrift
No. 80 WP Gren
. Am oberen Ende befand sich ein Auslösehebel, der durch einen großen Metallsplint fixiert war. Ich bin kein Waffenexperte, aber ich erkenne eine Handgranate, wenn ich eine vor mir habe. Ich blickte Nightingale an, der eine Handbewegung machte.
»Weg damit«, befahl er.
Ich schloss die Tasche und hängte sie mir vorsichtig über die Schulter.
Nightingale wandte sich wieder an Frank. »Sind Ihre Leute bereit?«
»Zwei Wagen stehen in Bereitschaft – nur für den Fall der Fälle.«
»Gut«, nickte Nightingale. »Wir brauchen vermutlich nicht länger als eine halbe Stunde.«
Wir stiegen wieder in den Wagen, und Nightingale dirigierte mich über die Brücke, die über die Gleise führte, und dann durch ein paar völlig identisch aussehende Straßen, bis er schließlich sagte: »Hier ist es.«
Um die Ecke fanden wir eine Parkmöglichkeit und gingen zu Fuß weiter.
Grasmere Road verlief parallel zu den Gleisen und sah völlig normal aus – eine Kette von Einzel- und Doppelhäusernaus den zwanziger Jahren mit imitierten Tudor-Fassaden und Erkerfenstern. Auf der Straße war niemand zu sehen. Die Kids waren in der Schule und ihre Eltern bei der Arbeit. Wir schlenderten lässig die Straße entlang, in meinem Fall so lässig, wie es eben geht, wenn einem bei jedem Schritt zwei Handgranaten gegen die Hüfte schlagen. Hätte uns jemand beobachtet, hätte er uns sicher für zwei gierige Immobilienagenten gehalten, die sich ein neues Revier unter den Nagel reißen wollten.
Plötzlich wandte sich Nightingale nach links, ging durch das Gartentor eines der Häuser und auf eine Holztür zu, die neben dem Haus den Weg zur Rückseite blockierte. Ohne stehen zu bleiben streckte er die rechte Hand gegen die Tür aus, die Handfläche nach vorn gerichtet. Mit einem leisen Knacken sprang das ganze Türschloss heraus und fiel klappernd auf den Weg.
Wir traten durch die Tür und blieben dahinter stehen. Nightingale nickte in Richtung der Tür; ich schob sie zu und stellte einen großen Terracotta-Blumentopf davor, um sie geschlossen zu halten. Im Blumentopf war noch etwas Erde, aus der ein verdorrter, schwarzer Pflanzenstängel herausragte. Dann überprüfte ich auch die anderen Blumentöpfe, welche die von der Sonne beschienene Seite des Wegs säumten: alle Pflanzen waren verdorrt. Nightingale bückte sich, nahm eine Handvoll Erde aus einem der Töpfe und zerbröselte sie dicht vor seiner Nase. Ich tat es ihm nach; die Erde roch nach nichts, steril, als sei sie zu lange in einem Topf auf dem Fenstersims aufbewahrt worden.
»Eine Zeit lang waren sie hier«, murmelte Nightingale.
»Wer war hier?«, fragte ich, bekam aber keine Antwort.
An der Rückseite des Hauses lagen die Bahngleise, also war nur auf zwei Seiten des Hauses mit neugierigen Nachbarn zu rechnen. Der Garten war zwar kein Dschungel, aber der Rasen sah doch so aus, als sei er seit Monaten nicht mehr gemäht worden, und die einst ordentlich angelegten Blumenbeete waren so verdorrt wie die Pflanzen in den Blumentöpfen. Die Terrassentüren waren verschlossen und die Vorhänge zugezogen. Wir gingen langsam um das Haus herum bis zu den Küchenfenstern. Hier waren die Jalousien herabgelassen; die Küchentür war von innen verriegelt. Ich achtete genau auf alles, was Nightingale tat, ich rechnete nämlich damit, dass er den Trick mit dem Türschloss wieder anwenden würde. Stattdessen schlug er einfach mit seinem Stock das Türfenster ein, griff durch die zersplitterte Scheibe, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür. Ich folgte ihm ins Haus.
Vom dämmrigen Licht abgesehen schien es eine völlig normale Küche in einem Vororthaus zu sein. Schwedische Arbeitsplatten, Gasherd, Mikrowelle, imitierte Steingutbehälter mit der Aufschrift Zucker, Tee und Kaffee. Die Kühl- und Gefrierschrankkombination war abgeschaltet, an den Türen waren mit Magneten Notizzettel und Rechnungen befestigt. Die jüngste Rechnung war ein halbes Jahr alt. Daneben hing ein Notizzettel: Opa? Darunter ein Kalender, auf dem die Abholzeiten im Kindergarten vermerkt waren.
»Hier wohnen Kinder«, sagte ich.
Nightingale
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