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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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unterstützen. Eine Einschränkung der kleinen Augen besteht zum Beispiel darin, dass sie wegen ihres kleinen Gesichtsfelds sehr große Verschiebungen allein nicht wahrnehmen können. Bei einer großen Verschiebung gerät der Gegenstand womöglich einfach aus ihrem Gesichtsfeld. Solche Bewegungen erfasst am einfachsten das große Auge mit seiner größeren Reichweite. Und indem das große Auge einer großen Verschiebung folgt, bringt es den Gegenstand erfolgreich wieder in Reichweite der kleinen Augen, die nun noch weitere kleinere Veränderungen feststellen können. Das große Auge ist dagegen nicht flexibel genug, um die Details im Bild zu verfolgen; die aber können die kleinen Augen aufspüren und als Teil des Gesamtbilds an das große Auge weitergeben. Kooperation innerhalb und zwischen verschiedenen Ebenen ist für solche Systeme entscheidend.
    In unserem vereinfachten Beispiel hatten wir eine Netzhaut mit etwa 30 Photorezeptoren und drei Ebenen. Man könnte sich aber eine Netzhaut mit sehr viel mehr Photorezeptoren und weiteren Ebenen vorstellen. Die menschliche Netzhaut zum Beispiel verfügt über an die 100 Millionen Photorezeptoren; es können also jede Menge Inputs durch viele Integrationsebenen gehen. Fügen wir unserem Schema eine weitere Ebene hinzu, so würde jedes unserer drei kleinen neuronalen Augen wiederum von drei noch kleineren neuronalen Augen versorgt, und wir hätten dann 9 + 3 + 1 = 13 neuronale Augen, die unseren Gegenstand betrachten. Bei zwei weiteren Ebenen wären wir bei 81 + 27 + 9 + 3 + 1 = 121 neuronalen Augen. Das heißt, wir könnten gleichzeitig in 121 verschiedene Richtungen sehen, und jede würde in ihrem Maßstab bestimmte Aspekte eines Gegenstands wahrnehmen.
    Visuelle Information wird im Gehirn tatsächlich auf vielen Ebenen verarbeitet. 106 Einige dieser Ebenen der Sehbahn sind in Abbildung 70 dargestellt. Die Signale aus den Photorezeptoren der Netzhaut gelangen zunächst an Neurone im Auge, die retinalen Ganglienzellen. Die Outputs dieser Ganglienzellen gehen an eine Hirnregion im Metathalamus, den so genannten seitlichen Kniehöcker (CGL). Der CGL leitet weiter an die primäre Sehrinde (V1), diese wiederum an die Hirnregion V2. Dann geht es wieder in andere Regionen, V3 und V4. All diese Regionen – die regionalen Ganglien, der CGL sowie V1 bis V4 – sind retinotop organisiert: Sie haben alle ein besonderes Empfindlichkeitsmuster, das das der Photorezeptoren im Auge spiegelt. Ihre visuelle Information wird zudem in unterschiedlichem Ausmaß gebündelt. Die Rezeptorfelder für Neurone in V4 sind tendenziell größer als die in V2, und diese wiederum größer als die in V1.
    (70) Gehirnregionen, die an der visuellen Verarbeitung beteiligt sind.
    Diese Gehirnregionen stehen verschiedentlich in Beziehung miteinander und mit weiteren am Sehvorgang beteiligten Regionen.Allerdings ist immer noch unbekannt, wie wir dank dieser Wechselbeziehungen bestimmte visuelle Interpretationen erlernen können. Mein Schema mit der Bewegung neuronaler Augen ist nur ein Denkansatz dafür, was sich vielleicht abspielt. Die Ebene 1 in meinem Schema bezieht sich auf eine der visuellen Regionen im Gehirn. Die Bewegung des neuronalen Auges entspräche dann der Verschiebung funktionaler Inputs auf diese visuelle Region. Unerlässlich dafür ist, dass die Region, die Ebene 1 entspricht, retinotop organisiert ist und dass weitere Ebenen oberhalb dieser Region deren Outputs integrieren sowie Informationen rückkoppeln, damit die Inputs verändert werden können.
    Aber egal, ob die Herausbildung visueller Modelle auf einem Schema wie meinem beruht oder auf einem anderen Mechanismus – entscheidend ist die Existenz verschiedener, miteinander kooperierender Ebenen. Stellen wir uns einmal vor, was passieren würde, wenn wir mit nur einer Ebene Gegenstände ansehen würden. Wenn wir lediglich sehr detaillierte visuelle Daten aufnehmen könnten, hätten wir zwar jede Menge Informationen, aber keine Ahnung, wie wir sie integrieren sollten. Das ist bei Patienten der Fall, die unter visueller Formagnosie leiden. 107 Wird ihnen ein Gegenstand präsentiert, so können sie zwar feine visuelle Details sehen, den Gegenstand insgesamt aber nicht erkennen. Könnten wir dagegen nur auf der weitesten Ebene Informationen aufnehmen, so hätten wir vielleicht ein Gesamtbild, aber ohne Detailinformationen nur eine vage Vorstellung davon, was wir sehen. Erst wenn wir durch viele kooperierende Ebenen

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