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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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auf die eine oder andere Weise interpretieren würden. Denn ohne solche Entscheidungen wären wir handlungsunfähig, säßen in der Falle einer Welt der Unentschlossenheit. Die Lösung besteht darin, verschiedene Interpretationen miteinander konkurrieren zu lassen. Durch wechselseitige neuronale Hemmung schließen sich verschiedene Interpretationen gegenseitig aus; wir neigen also dazu, die Dinge zu kategorisieren oder abzugrenzen. Diese Kategorisierungen helfen uns, bestimmte Handlungen auszuführen, etwa zu entscheiden, in den Apfel zu beißen, weil er sich ganz klar von einem Tennisball unterscheidet, oder durch die Tür zu gehen, weil sie eben kein Fenster ist. Unsere Kategorien sind freilich nicht unverrückbar in Stein gemeißelt – sie können durch Lernen verändert werden. Trotzdem können wir erst durch Kategorienbildung die Welt sinnvoll zerlegen. Schon bei der biologischen Entwicklung haben wir festgestellt, dass wir die Welt zerlegen, indem wir uns selbst zerlegen. Diesmal nun definieren nicht hemmende Wechselwirkungen zwischen Zellen die Regionen eines Embryos, sondern es hemmen sich, abhängig von unseren Erfahrungen seit der Geburt, Neurone gegenseitig.
    Unsere Interpretationen beruhen damit auf genau den Prinzipien, die sich durch dieses Buch ziehen. Die doppelte Rückkopplungsschleife von Verstärkung und Wettbewerb bedingt Lernen durch Diskrepanzen und Korrelationen, wie die neuronalen Schemata für Diskrepanzneurone in den beiden vorigen Kapiteln es illustrieren. Diese doppelten Schleifen werden von der Gesamtheit unserer Erfahrungen und Handlungen angetrieben, was zu persistenten Änderungen der Stärke und Anzahl von Synapsen führt. Außerdem sind die Schleifen eingebettet in verschiedene Formen von neuronalerKooperation, Wettbewerb, kombinatorischem Reichtum und Rekurrenz. Es besteht Kooperation zwischen verschiedenen Ebenen; als Symbol dafür hatten uns die neuronalen Augen gedient. In ihrer Kombination liefern diese eine Modell- oder Interpretationsvariabilität für das, was wir sehen. Interpretationen konkurrieren zugleich miteinander, damit wir uns für die eine oder die andere Sichtweise entscheiden. Und das alles beruht auf rekurrenter Verschiebung von Diskrepanzen und Erwartungen. Die Komplexität unserer Interpretationen ergibt sich nicht aus neu eingeführten Prinzipien, sondern aus weiteren Verzweigungen in der Funktionsweise unserer bekannten Prinzipien.
DIE FRAGE DES STILS
    Ich will nun zeigen, wie dieser eine Prozess zu recht fortgeschrittenen Interpretationen führen kann. Deshalb baue ich unser Schema mit den neuronalen Augen weiter aus und wende es auf komplexere Bilder an. Das Ziel ist, eine unserer am schwersten nachvollziehbaren Interpretationen greifbar zu machen: den Stil eines Künstlers.
    In unserem vereinfachten Beispiel eindimensionaler Menschen hatten wir drei Ebenen von neuronalen Augen, die lernen, bestimmte Merkmale einer Person zu verfolgen, etwa den dunklen Fleck in der Mitte. Wir wollen dieses Schema jetzt auf zweidimensionale Bilder und deutlich mehr neuronale Ebenen ausweiten, wobei Ebene 2 vielleicht Hunderte neuronaler Augen umfasst. Betrachten wir komplexe Gegenstände wie Gesichter, so lernen unsere Augen mit der Zeit, bestimmte Merkmale des Gesichts auf verschiedenen Maßstäben zu verfolgen. Ein großes neuronales Auge registriert vielleicht das Gesicht als Ganzes, während kleinere neuronale Augen sich an feinere Details halten, eines etwa in der Mitte an die Nasenspitze oder eines weiter unten ans Kinn. Diese Vorstellung illustriert Abbildung 72: Wir sehen dort beispielhaft, wo einige dieser kleineren neuronalen Augen hinsehen, wenn wir ein Porträt von Rembrandt (links) oder Modigliani (rechts) betrachten. Die Stellen, auf die sich neuronale Augen richten, habe ich mit Punkten markiert, also etwa Merkmale wie die Mitte des Kinns, den linken Mundwinkel und so weiter. Jeder Punkt wird relativ zu den anderen definiert und fixiert – weißerPunkt auf dem linken Auge, schwarzer auf dem rechten und so weiter. Ich konnte die Punkte so verteilen, weil ich schon weiß, wie man zweidimensionale Bilder von Gesichtern betrachtet und interpretiert. Damit kann ich einander entsprechende Merkmale wie das linke Auge oder das Kinn in beiden Porträts leicht identifizieren. Wir stellen uns aber jetzt vor, dass diese Stellen von bestimmten neuronalen Augen automatisch identifiziert werden, weil sie durch die zuvor erfolgte Konfrontation mit vielen Gesichtern so

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