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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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an, nach dem Erlernen eines Personenmodells für Mary und John wird uns ein Bild präsentiert, das Merkmale von beiden vereint wie unten in Abbildung 71. Das linke Ende des dunklen Flecks passt zu Mary, das rechte Ende zu John. Unsere neuronalen Augen und die Korrelationsneurone dürften hier zwischen zwei Optionen hin- und hergerissen sein – sie könnten darin Mary sehen oder John. Das kleine neuronale Auge in der Mitte etwa könnte nach rechts oder ins Zentrum tendieren, oder vielleicht auch auf eine Stelle zwischen beiden. Was passiert in einer solchen Situation? Eine Möglichkeit wäre, dass unser neuronales System sozusagen zwischen den Stühlen sitzt – es sieht in dem Gegenstand weder Mary noch John. Eine andere Option wäre, dass es sich für einen von beiden entscheidet, sagen wir für Mary. Es könnte dann bei dieser Entscheidung bleiben oder sie auch gelegentlich umändern, so dass sie manchmal Mary sieht und manchmal John. In jedem Fall wird aber so etwas wie eine Entscheidung getroffen, statt ewig im Niemandsland hängen zu bleiben.
    (71) John, Mary und eine doppeldeutige Person.
    In der Praxis sind unsere neuronalen Systeme offenbar so strukturiert, dass sie eher Lösungen finden als zwischen den Stühlen sitzen bleiben. In der Regel interpretieren wir doppeldeutige Bilder in die eine oder andere Richtung, statt in der Mitte zu schwanken. Eine Möglichkeit, diese Entscheidungsfähigkeit zu erreichen, nutzt der neuronale Wettbewerb. Nehmen wir an, beim Erlernen unseres Personenmodells für Mary und John führen wir zwischen verschiedenen Interpretationen einen Wettbewerb ein. Die Korrelationsneurone, die speziell von Mary stimuliert werden, hemmen tendenziell die, die von John stimuliert werden, und umgekehrt. Am Ende haben wir zwei Stadien, die sich gegenseitig ausschließen – wir tendieren dazu, etwas entweder als Mary zu sehen oder als John, aber nicht als irgendetwas in der Mitte. Aufgrund noch anderer Faktoren neigen wir dann schließlich zu dem einen Stadium oder dem anderen. Haben wir kurz zuvor Mary gesehen, sehen wir einen Gegenstand vielleicht eher als Mary, weil die Neurone, die an dieser Interpretation beteiligt sind, ohnehin bereits feuerten. Auch wenn wir zugleich Marys Stimmehören, bringt das die Waage vielleicht dazu, in ihre Richtung auszuschlagen, wenn wir zuvor gelernt haben, dieses Geräusch mit dem Erscheinen von Mary zu verbinden. Wohin wir neigen, hängt von allen möglichen Faktoren ab, aber unser neuronales System ist so organisiert, dass es sich für eine Richtung entscheidet. Damit haben wir eine neue Wettbewerbssituation: Wettbewerb zwischen Interpretationen.
    Warum eigentlich sind unsere neuronalen Systeme so strukturiert, dass sie solche Entscheidungen treffen und nicht in einem Zwischenstadium abwarten? Bedenken wir dazu, warum wir überhaupt Interpretationen vornehmen. Nehmen wir an, wir sind mit Mary eng befreundet, John dagegen ist uns sehr unsympathisch. Was wir von unserem Gegenüber erwarten, hängt davon ab, ob wir die Person für Mary halten oder für John. Handelt es sich um Mary, so könnten wir eine angenehme Unterhaltung prognostizieren, während wir uns von John vielleicht einen weniger angenehmen Austausch erwarten. Das wieder beeinflusst unsere eigenen Handlungen – bei Mary bleiben wir eher in der Nähe, um uns mit ihr zu unterhalten, John dagegen versuchen wir möglichst aus dem Weg zu gehen. Irgendwann muss die Entscheidung fallen, was wir jetzt tun, dableiben oder gehen – es ist also wichtig herauszufinden, um wen es sich handelt. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, dass unsere neuronalen Systeme so strukturiert sind, dass sie bestimmte Interpretationen liefern und nicht dauerhaft unentschlossen hängen bleiben. Hauptziel unserer Interpretationen ist eine sinnvolle Unterstützung unserer Handlungen; es ist also wichtig, dass wir sie wirklich vornehmen.
    Wie unabdingbar solche Entscheidungen sind, sehen wir, wenn wir uns einmal vorstellen, wir könnten keine Entscheidungen herbeiführenden Interpretationen vornehmen. Wir wären dann zum Beispiel unsicher, ob wir uns auf etwas setzen sollen, was ein Stuhl zu sein scheint, weil es in gewisser Hinsicht auch wie ein Tisch aussieht. Wir würden zögern, in einen Apfel zu beißen, weil er irgendwie auch aussieht wie ein Tennisball. Wir könnten grübeln, ob wir eine Tür öffnen sollen, weil sie auch ein bisschen einem Fenster ähnelt. Das Leben wäre unmöglich, wenn wir nicht ständig Zweifelsfälle

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