Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
Vom Netzwerk:
Training an Mary); nun aber registrieren sie, dass das mittlere Auge sich anders bewegt hat als die anderen. Jedes Mal, wenn John betrachtet wird, kommt es zu derselben Diskrepanz, egal, wo auf demHintergrund er sich befindet. Diese distinktive Verschiebung des mittleren kleinen Auges im Verhältnis zu den anderen neuronalen Augen wird also Johns Erkennungsmerkmal – unser neuronales Augensystem weiß also, dass wir jetzt John ansehen und nicht Mary.
    Unser neuronales System hat also erreicht, was wir wollten. Die neuronalen Augen sagen uns, dass John und Mary im Prinzip gleich sind – wir sehen in John Mary –, unsere Korrelationsneurone aber sagen uns, dass zwischen ihnen auch ein Unterschied besteht – John und Mary verursachen ein unterschiedliches Feuerungsmuster der Korrelationsneurone. Mit diesem detaillierten Beispiel habe ich nun einige Grundmerkmale dafür aufgezeigt, wie wir möglicherweise lernen zu interpretieren, was wir sehen. Wir wollen als nächstes einige dieser Merkmale genauer betrachten.
SEHEN IN MODELLEN
    Bei der Betrachtung von Mary erstellt unser neuronales System eine Erwartung oder ein Modell für das, was es sieht; das System lernt, was jedes neuronale Auge normalerweise wahrnimmt und wohin unsere verschiedenen neuronalen Augen tendenziell rücken. Mein Beispiel war eindimensional, für komplexere Gegenstände in unserer Umwelt gilt aber dasselbe. Betrachten wir jemanden eine Zeit lang, so verändert sich vielleicht punktuell sein Aussehen. Er kann den Kopf drehen, den Mund bewegen oder seinen Gesichtsausdruck verändern. Diese Veränderungen sind sehr viel komplexer als nur Marys Bewegungen von links nach rechts. Immer noch aber bewegen sich, wie bei Marys Bewegungen, bestimmte Elemente in Korrelation zueinander. Dreht sich ein Kopf, so bewegen sich die Augen mit; lächelt jemand, so bewegen sich linke und rechte Seite des Mundes zusammen. Unser Hirn kann diese Ereignisse gewissermaßen überwachen, so dass wir Erwartungen oder Modelle dafür entwickeln können, wie die verschiedenen Elemente des Gesichts sich normalerweise gemeinsam bewegen.
    Wenn wir ein solches Modell aufstellen, setzen wir etwas voraus, was wir normalerweise als gegeben ansehen: nämlich physische Kontinuität. Wir gehen davon aus, dass wir im Laufe einer Beobachtung immer dieselbe Person vor Augen haben. Betrachten wir Mary eineZeit lang ohne Unterbrechung, so können wir begründet annehmen, dass es auch wirklich immer Mary ist und nicht jemand anderes, der auf halber Strecke ihren Platz eingenommen hat. Diese Annahme erlaubt es uns, ein Modell für diese Person aufzubauen, eine Repräsentation davon, wie ihre Elemente sich normalerweise zueinander verhalten. Würden die Dinge dagegen dauernd von einer Identität zur anderen wechseln, so würde es uns sehr schwer fallen, Erwartungen oder Modelle dafür aufzubauen. Würde ein Gegenstand blitzschnell vom Aussehen eines Apfels zu einer Banane umschalten und dann zu einem Gesicht und einem Baum, so könnten wir uns nur sehr schwer einen Eindruck davon verschaffen. In der Praxis zeigen die Gegenstände aber kein solch erratisches Verhalten, und wir können so genannte invariante Repräsentationen erlernen – Modelle, die es uns ermöglichen, bei ein und derselben Identität zu bleiben, wenn wir etwas betrachten. 105 Wir behalten diesen Begriff bei, egal, ob es zu Varianten kommt, etwa durch Veränderungen in der Haltung oder im Ausdruck – so wie wir auch von Mary dasselbe neuronale Bild beibehielten, selbst wenn sie sich bewegte. Damit können wir auch lernen, wie die verschiedenen Elemente unseres Gegenstands sich im Verhältnis zueinander bewegen. Wir können die Korrelationen erlernen, zu denen es kommt, wenn ein Gesicht sich abwendet oder lächelt. Die Identität bleibt erhalten, obwohl einzelne Elemente sich verändern.
    Existiert nun ein Modell oder eine Erwartung für einen Gegenstand, so können wir künftig verwandte Gegenstände durch dasselbe Modell sehen. Wir können John durch das Modell sehen, das wir bei der Betrachtung von Mary herausgebildet haben. Damit können wir einen Gegenstand als Variante von etwas anderem sehen – in John sehen wir Mary. Trotzdem bleibt uns bewusst, dass wir nicht genau dasselbe vor Augen haben, weil zu dem Modell, das wir bereits aufgebaut hatten, Diskrepanzen bestehen. Das modellgestützte Sehen hat zwei Seiten. Es gibt ein gemeinsames neuronales Modell, durch das wir verwandte Gegenstände wahrnehmen, aber zugleich

Weitere Kostenlose Bücher