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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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sehen, wird es möglich, dass wir bestimmte Interpretationen leisten und Dinge wiedererkennen können.
    Dass wir auf verschiedenen Ebenen sehen, heißt nicht, dass wir für jede Ebene einen ganz eigenen Mechanismus benötigen. Unsere kleinen neuronalen Augen zum Beispiel funktionieren ziemlich exakt genauso wie das große. Bei den kleinen sehen abc-Neurone auf ein Drittel des Gesichtsfelds, beim großen decken ABC-Neurone das gesamte Feld ab. Ihre Inputs kommen aus unterschiedlichen Fenstern, aber die Verarbeitung funktioniert in beiden Ebenen gleich. Auch für die verschiedenen Integrationsebenen im Gehirn brauchen wir keine besonderen neuronalen Vorgänge anzusprechen. Dieselben Grundelemente könnten rekurrent immer wieder verwendet werden, und so ließen sich Zusammenhänge auf einer Anzahl vernetzter Größenordnungen erfassen. Genauso ließen sich beim wachsenden Embryo ähnliche zelluläre Wechselwirkungen für die Einrichtung großer oder detaillierterer Merkmale nutzen (Kapitel 4, S. 120–126).
TOP DOWN UND BOTTOM UP
    Wir sind versucht zu denken, alles, was wir sehen, wenn wir die Umwelt betrachten, würde in einer Verarbeitungskette ablaufen. Über unsere Augen erhalten wir sensorische Informationen, die wir im Gehirn schrittweise verarbeiten, und dann wissen wir, wen oder was wir ansehen. Damit würden wir die Wahrnehmung als Bottom-up-Prozess definieren, weil sie unten mit den einfachen Sinnen anfängt und oben bei den höheren Hirnfunktionen endet. Ein Top-down-Prozess dagegen wäre es, wenn wir mit bestimmten Modellen an die Welt herangingen. Diese Modelle stammen aus uns selbst und nicht von unseren Sinnen, und sie erlauben uns, zu sehen und die sensorische Information, die wir empfangen, zu interpretieren.
    Unser Neuralschema zeigt, dass diese beiden Blickwinkel – bottom up und top down – keine echten Alternativen, sondern eng ineinander verwoben sind. Wenn wir Mary sehen, gehen visuelle Inputs von den Photorezeptoren der Netzhaut zu den verschiedenen neuronalen Augen in höheren Hirnregionen. Die Signale wandern bottom up, also von unten nach oben. Veränderungen auf Ebene 2 und 3 unserer neuronalen Augen werden dann an die Verbindungen zu Ebene 1 rückgekoppelt und beeinflussen so, wohin die neuronalen Augen blicken. 108 Jetzt fließt die Information top down, von oben nach unten. Das wiederum verändert die Signale, die von Ebene 1 an höher gelegene neuronale Augen gelangen. Es besteht also eine beständige Rückkopplung zwischen den verschiedenen Ebenen, von einer Einbahnstraße im Informationsfluss kann keine Rede sein.
    Wenn wir nun John ansehen, wird das Modell, das wir bei der Beobachtung von Mary erlernt haben, dazu verwendet, unsere neuronalen Augen zu lenken. Das ist ein Top-down-Prozess, weil wir John durch das bereits mitgebrachte Modell von Mary sehen. Betrachten wir aber John eine Weile, so erlernen unsere Korrelationsneurone bestimmte Diskrepanzen, die unser Personenmodell erweitern. Das ist ein Bottom-up-Lernprozess, weil jetzt sensorische Inputs das Modell beeinflussen. Wieder wird also ständig zwischen Modellen und der sensorischen Information rückgekoppelt. Die Interpretation beruht weder allein auf uns noch ausschließlich auf unserem sensorischen Input, sondern auf dem andauernden Hin und Her beider Aspekte über einen längeren Zeitraum.
    Im vorigen Kapitel haben wir festgehalten, dass unsere neuronale Reise einen beständigen Dialog zwischen unseren Handlungen und unseren Erfahrungen darstellt. Entsprechendes gilt auch für unsere Interpretationen. So, wie wir lernen, in welchem Bezug unsere physischen Handlungen zu den Erfahrungen stehen, lernen wir auch, wie innere Handlungen, die wir als Bewegungen des neuronalen Auges bezeichnet haben, sich zu den Gegenständen verhalten, die sie wahrnehmen. Durch beständige Rückkopplung zwischen innerer neuronaler Aktivität und sensorischen Informationen gelangen wir zu bestimmten Modellen oder Interpretationen. Diese wiederum leiten weitere Wechselwirkungen und Erfahrungen ein, und damit auch weitere Verfeinerungen unserer Modelle. Unsere Reise durch den neuronalen Raum führt weder von oben nach unten noch von unten nach oben; top down und bottom up sind untrennbar miteinander verwoben.
D ER WETTBEWERB DER INTERPRETATIONEN
    Kommen wir nun noch einmal zu der Frage, warum wir zwischen alternativen Interpretationen hin und her springen, wenn wir doppeldeutige Bilder sehen wie das mit der alten oder der jungen Frau. Nehmen wir

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