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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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Wandel, weil sie nicht nur zu bestimmten Reaktionen führen, sondern weil diese Reaktionen wiederum den Kontext verändern.
    Kulturelle Verschiebungen sind relativ: Sie beruhen immer auf dem Vorausgegangenen, und jeder Schritt verschiebt Kontext und Standards und ist damit Ansporn für die nächste Veränderung. Und das geschieht nicht nur an einem Ort oder in einer Disziplin, sondern wiederholt überall auf der Welt in vielen Gebieten kultureller Betätigung, in Kunst, Technologie, Wissenschaft, Mode und Handel. Das ist wieder unser vertrautes Prinzip der Rekurrenz, angewandt auf menschliche Bestrebungen.
    Diese selbstverstärkenden Verschiebungen im kulturellen Raum bewirken nicht nur die Verbreitung neuer Leistungen, sondern auch den Wandel bestimmter Werte, auf deren Grundlage diese Leistungen verstärkt werden. Leonardo hatte mehrere Kriterien zur Beurteilung einer malerischen Leistung: »Zuerst mußt du prüfen, ob die Gestalten ein solches Relief haben, wie ihre Stellung und das Licht, das sie beleuchtet, es verlangen. (…) Zweitens kommt es auf die Anordnung oder Verteilung der Gestalten an. Sie müssen richtig verteilt sein, je nach dem Fall, den diese Historie darstellen soll. Drittens müssen die Gestalten lebhaft mit ihrer besonderen Angelegenheit beschäftigt sein.« 139 Diese Werte passen bestens auf die Kunst der Renaissance, die die Wirklichkeit und die Perspektive korrekt erfassen möchte. Doch für die später wirkenden Maler des Impressionismus oder des Kubismus können sie kaum gelten. Unsere Erfolgskriterien, also das, was wir wertschätzen, können sich verändern, indem wir auf das Vorausgegangene reagieren und aufbauen.
    Das heißt nicht, dass alle Werte ständig im Wandel begriffen sind. Über Generationen hatten Maler mit Sicherheit einige Werte gemeinsam, etwa die Liebe zur Malerei und zur genauen Beobachtung. Gerade wegen dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeiten können wir überhaupt nur die Kunstgeschichte als kohärentes Thema diskutieren. Jeder Künstler reagiert auf Kollegen und Vorgänger und führt zugleich neue Elemente ein. Der Impressionismus entstand nicht aus heiterem Himmel, sondern baute auf dem auf, was ihm vorausging. Doch die Aussage, dass das Gemälde eines Impressionisten wie Monet besser ist als das eines Renaissancekünstlers wie Leonardo, müsste immer als subjektiv gelten. Es gibt keine fixen, allgemeinen Kriterien, auf die solche Bewertungen sich berufen können, weil die Werte, nach denen wir ein Gemälde beurteilen, variieren können. Es ist sogar denkbar, mehrere Werte gleichzeitig zu Grunde zu legen und zu beschließen, dass sowohl Monet als auch Leonardo, jeder auf seine Weise, großartige Künstler sind. Ein weiteres gutes Beispiel für den Wandel von Werten ist die Mode. Der Grundwert, gut auszusehen, bleibt vielleicht konstant erhalten, aber welche bestimmten Kleider wir wertschätzen, kann sich von Jahr zu Jahr ändern. Manche Werte sind instabiler als andere und verändern sich schneller; Antrieb dafür ist der kulturelle Wandel selbst.
    Die Wissenschaft beruft sich auf eine relativ stabile Reihe von Grundprinzipien, darunter das, wie vollständig und einfach eine Theorie einen Befund begründen kann. Doch auch diese Werte waren noch nicht immer da. Leonardo betonte immer wieder, wie wichtig zur Herausbildung wissenschaftlicher Auffassungen die Empirie oder Beobachtung ist, und wehrte sich gegen den Rückgriff auf das Hörensagen und auf traditionelle Meinungen. Und wirklich bildete sich gerade in der Renaissance allmählich unser moderner wissenschaftlicher Wertekanon heraus. Als diese Werte kulturell fest verankert waren, wurde es möglich, wissenschaftliche Leistungen über relativ feste Kriterien zu beurteilen. Wir können den wissenschaftlichen Fortschritt diskutieren, weil wir fragen können, welche Theorie unsere empirischen Beobachtungen besser oder einfacher erklären kann. Das führt dazu, dass Theorie und Empirie immer besser zueinander passen. Genauso können wir Fortschritte in Technologien wie der Kommunikation diskutieren, weil wir auf anerkannte Maßeinheiten zurückgreifen können, etwa die Geschwindigkeit der Datenübertragung. Darin, dass Wissenschaft und Technologie weitgehend fixierte Kriterien aufweisen, an denen sie sich beurteilen lassen,gleichen sie Prozessen wie Evolution und prädiktivem Lernen. Bei der Evolution werden Organismen oder Gene nach dem Kriterium des Fortpflanzungserfolgs »beurteilt«, und beim prädiktiven Lernen
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