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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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Vermittlung durch Sprache, Kunstwerke und Kopien sind nicht dasselbe wie die Gesetze der genetischen Vererbung oder der Veränderungen an Synapsen. Es hat Versuche gegeben, die Parallelen zwischen Kultur und verwandten biologischen Prozessen deutlicher herauszuarbeiten. So wurde etwa vorgeschlagen, dass eine Transmissionseinheit, das so genannte Mem, in der Kultur eine ähnliche Rolle spiele wie ein Gen in der Evolution. 140 Ein Mem wäre demnach eine Idee oder eine Handlung, die sich repliziert und von einem Menschen an den nächsten tradiert wird, so wie ein Gen von einem Elternteil an ein Kind weitergegeben wird. Sicher mag der Begriff des Mems hilfreich sein, um die eine oder andere Parallele zwischen Evolution und kulturellem Wandel aufzuzeigen, aber er stiftet auch einige Verwirrung. Was genau entspricht zum Beispiel der natürlichen Selektion, die dazu führt, dass ein Mem sich auf Kosten eines anderen durchsetzt? Die Antwort ist alles andere als klar, und der Genetiker Jerry Coyne kommt daher zu dem Schluss, das Problem an der Memetik sei, dass sie »durch und durch tautologisch ist und nicht erklären kann, warum ein Mem sich durchsetzt, es sei denn, man erklärt post facto , dass es eben über Qualitäten verfügte, die ihm zur Durchsetzung verholfen haben.« 141
    Wir müssen unbedingt einen Schritt zurücktreten und das Verhältnis zwischen Kultur und anderen Prozessen auf dem geeigneten Abstraktionsniveau betrachten. Erst in den gemeinsamen Grundprinzipien der Formel des Lebens zeigt sich ihre formale Ähnlichkeit. Formale Ähnlichkeiten aufzuzeigen, heißt aber nicht, zwischen den einzelnen Komponenten nach Eins-zu-eins-Entsprechungen zu suchen. Wir können feststellen, dass es sowohl im Krieg als auch beim Schach um die Eroberung von Territorien geht, ohne gleich die Felder auf einem Schachbrett mit den Landeinheiten einer Feldschlacht gleichsetzen zu wollen. Diese Suche nach einem entsprechenden Stück Land wäre eine irreführende Anstrengung, die uns eher ablenkt als zum Verständnis dieser Prozesse beiträgt.
    Mein Anliegen war es auszuführen, dass die Formel des Lebens ein nützliches und angemessenes Abstraktionsniveau darstellt, auf dem sich auffällige Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Wandlungsprozessen an lebenden Objekten herausstellen lassen. Wir erkennen so eine gemeinsame Reihe von Prinzipien und Wechselwirkungen am Ursprung jedes Prozesses. Außerdem erkennen wir, dass wir als Menschen das Privileg genießen, an vier bemerkenswerten Reisenteilzuhaben: der Reise durch den genetischen Raum bis zur Spezies Mensch; der Reise durch den Entwicklungsraum bis zu unserer Geburt und dem Wachstum; der Reise durch den neuronalen Raum bis zu unseren Gedanken und Handlungen, und der Reise durch den kulturellen Raum, über den wir die Gedanken und Leistungen der anderen genießen können. Wir sind sowohl Passagiere als auch Akteure bei den vier großen Reisen des Lebens.
    Diese Reisen gleichen sich nicht nur formal, sondern sind auch anderweitig verbunden. Erst durch die vorausgehenden Prozesse der Evolution, der biologischen Entwicklung und des Lernens wurden die Grundvoraussetzungen für den kulturellen Wandel geschaffen. Die kulturelle Reise ergibt sich aus den anderen drei Reisen. Zugleich weist aber die Beziehung auch in die andere Richtung. Unser wissenschaftliches Verständnis von Evolution, biologischer Entwicklung und Lernen ist auch selbst ein Kulturprodukt. Erst dank der Kultur können wir alle Wandlungsprozesse des Lebens beobachten. Um diese gegenseitige Beziehung zwischen Kultur und anderen Wandlungsprozessen besser zu begreifen, müssen wir etwas näher betrachten, wie unsere vier Reisen miteinander verbunden sind.

K APITEL 12
DER GROSSE KREISLAUF
    Menschen sind große Geschichtenerzähler. Unser Wissen und unsere Einsichten kommunizieren wir häufig in Geschichten. Wir mögen es, wenn sie präzise Strukturen aufweisen, einen klaren Anfang und einen klaren Schluss haben, und in der Regel mögen wir es, wenn Dinge aus bestimmten Gründen passieren, die sich in einer Folge darstellen lassen. Das gilt auch, wenn die Geschichte von uns selbst handelt. Zeichnen wir die Geschichte der Menschheit nach, so fragen wir ganz selbstverständlich, wann sie begonnen hat und was den Menschen so besonders macht. Häufig suchen wir Antworten in Fähigkeiten wie Sprache, Nachahmung oder zukunftsorientierter Planung, in der menschlichen Seele oder in der Kreativität. Doch in diesem ganzen Buch haben
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