Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
schnell reproduzieren. Stellen wir uns vor, schwarze Kugeln vermehren sich umdurchschnittlich 11 Prozent pro Stunde gegen 10 Prozent bei den weißen. Ausgehend von einer Population von 100 schwarzen und 100 weißen Kugeln, können wir nach einer Stunde 111 schwarze und 110 weiße Kugeln erwarten; die schwarzen Kugeln stellen nun etwas mehr als 50 Prozent der Population (50,2 Prozent). Nach zehn Stunden haben wir etwa 280 schwarze und 260 weiße Kugeln, der Anteil der schwarzen ist also auf etwa 52 Prozent gestiegen. Nach hundert Stunden umfasst die Gesamtpopulation mehrere zehntausend, und der Anteil an schwarzen Kugeln beträgt etwa 70 Prozent. Die Regelmäßigkeit des exponentiellen Wachstums bewirkt, dass der minimale Unterschied in der Wachstumsrate von schwarz und weiß zu einem stündlich stärkeren Mengenunterschied führt und Schwarz sein weißes Pendant immer deutlicher überflügelt.
Verstärkung ist ein Schlüsselfaktor der natürlichen Selektion. Gene oder genauer gesagt Genvarianten, die einen Organismus bei der Fortpflanzung begünstigen, sind in der nächsten Generation stärker vertreten. Sind sie auch nur leicht in der Überzahl, so starten diese Genvarianten mit einem Vorteil, den sie in der folgenden Generation weiter ausbauen können. Durch immer weitere Wiederholung dieses Vorgangs kann ein Gen, das die Fortpflanzung begünstigt, sich beständig selbst verstärken und in der Population immer weiter zunehmen.
Dennoch kann Verstärkung allein nicht bewirken, dass eine Genvariante eine andere ersetzt. Selbst wenn wir unsere Population von weißen und schwarzen Kugeln mehrere Tage lang anwachsen lassen, so dass am Ende über 99 Prozent von ihnen schwarz sind, wäre noch immer eine hohe Zahl weißer Kugeln im Umlauf. Das liegt daran, dass keine Kugeln verloren gehen; wir bekommen immer nur mehr und mehr. Verstärkung kann zu einem proportionalen Anstieg führen, nicht aber zur Ersetzung einer Genvariante durch eine andere. Um zu erklären, wie es zur Ersetzung kommt, muss ich ein viertes Prinzip einführen: den Wettbewerb.
D AS PRINZIP DES WETTBEWERBS
Die Idee der natürlichen Selektion kam Darwin erstmals nach der Rückkehr von seiner fünfjährigen Schiffsreise auf der Beagle , während der er als Naturforscher tätig gewesen war. Bei dieser Fahrt gelangte Darwin zu der Überzeugung, dass die Arten nicht festgelegt sind, sondern sich mit der Zeit wandeln können. Er hatte allerdings keine Erklärung für einen Mechanismus, nach dem die Arten sich wandeln und anpassen konnten. Im Oktober 1838, zwei Jahre nach seiner Heimkehr, las er ein Buch über Populationswachstum von Thomas Malthus. Malthus hatte darauf hingewiesen, dass bei einem Anstieg der menschlichen Population gemäß den Regeln des exponentiellen Wachstums die Populationsgröße am Ende den zur Verfügung stehenden Nahrungsvorrat übersteigen würde, so dass Kampf und Hunger eine unausweichliche Folge wären. Dieser Gedanke traf ins Schwarze:
Im Oktober 1838 (…) las ich zufällig zur Unterhaltung ›MALTHUS, über Bevölkerung‹, und da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtung über die Lebensweise von Thieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen erhalten zu werden neigen und ungünstige zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte. 11
Darwin erkannte, dass Populationen, in denen alle Nachkommen der Pflanzen oder Tiere überlebten, bald schon die Grenzen dessen überschreiten würden, was für die Umwelt tragbar war. Es käme zu einem beständigen Wettbewerb ums Überleben, einem Konkurrenzkampf, in dem viele Individuen sterben müssen. Die besser angepassten Individuen hätten größere Überlebenschancen, so dass es zu einer natürlichen Form der Selektion käme. Die Lektüre von Malthus war für Darwin insofern entscheidend, als sie zwei Gedanken zusammenbrachte – die Neigung von Populationen, exponentiell zu wachsen, und die Notwendigkeit, dieses Wachstum irgendwann zu begrenzen, weil die Ressourcen der Umwelt begrenzt sind. Es ist kein Zufall,dass auch Alfred Russell Wallace gerade Malthus studiert hatte, als er etwa 20 Jahre nach Darwin (aber noch vor dessen Veröffentlichung) ebenfalls die Theorie der natürlichen Selektion entwickelte. In beiden
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