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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Ausarbeitung im Mutterleib verdankt.
DIE ZERTEILUNG DER WELT
    Mit all den Reaktionen, die wir in diesem Kapitel behandelt haben, kann ein Organismus einzelne Ereignisse oder Ereignisfolgen in seiner Umgebung unterscheiden. Escherichia coli kann bestimmen, ob sie auf Nahrung zu- oder davon wegschwimmt, eine Pflanze kann lange von kurzen Tagen unterscheiden, eine Venusfliegenfalle kann zwischen einem Insekt und einem Windstoß differenzieren, ein Seehase kann die Berührung eines Jägers vom harmlosen Rütteln des Meeres unterscheiden, und ein Mensch kann bestimmen, ob er einen Apfel oder einen Stein in der Hand hält. Dank dieser Reaktionen kann der Einzelne die Welt kategorisieren, sie in bestimmte Ereignistypen zerteilen. Solche Kategorisierungen können auftreten, weil die Welt nicht homogen, sondern in vielen Größenordnungen hochgradig organisiert ist. Materie ballt sich zusammen zu Sonnen, Planeten, Felsen, Meeren und Lebewesen. Die Bewegungen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Materieballungen führen zu reihenweise korrelierenden Veränderungen. Wenn unser Planet sich dreht, verändert sich an vielen Stellen der Erdoberfläche gleichzeitig die Sonneneinstrahlung; ganze Länder sind dann in Licht oder Dunkelheit getaucht. Wenn ein Apfel herunterfällt, bewegen sich alle Atome, aus denen er besteht, gleichzeitig nach unten. Unsere Umweltist sehr komplex, und sie birgt viele verschiedene Ausformungen korrelierter Veränderung.
    Über instinktive Reaktionen lassen sich einige dieser Korrelationen von anderen unterscheiden, so dass ein Organismus die Ereignisse, die für sein Überleben und seine Reproduktion am wichtigsten sind, identifizieren und darauf reagieren kann. Eine Venusfliegenfalle schnappt zu, wenn die kollektive Bewegung der Moleküle in einem Insekt die Borsten auf dem Blatt reizt. Andere Veränderungen an der Pflanze, etwa die Bewegung der Moleküle aus der Luft, reizen die Borsten nicht. Damit diskriminiert die Pflanze einen Typ von Veränderungen in der Umwelt, ein krabbelndes Insekt, von einem anderen, einem Luftzug. Fähig ist sie dazu, weil die Kräfte, die die eng assoziierten Moleküle eines Insekts aufbringen, stärker sind als die eines Gases. Und indem die Venusfliegenfalle auf eine Ereignisfolge reagiert und nicht auf ein einzelnes Ereignis, kann sie unterscheiden, ob ein Insekt über sie krabbelt oder vielleicht etwas Sand an ihr Blatt gefegt wurde. Dieselbe Fähigkeit zur Diskriminierung zeigen Tiere mit ihren Reaktionen. Eine Berührung bewirkt, dass ein Seehase sich zusammenzieht, während das Wasser, das gewöhnlich rundum wogt, diese Reaktion nicht auslöst. Die Kollision mit den eng assoziierten Molekülen eines Feststoffs wirkt nämlich stärker als eine Flüssigkeit und reizt effizienter die sensorischen Nervenenden in der Haut. Indem die Schnecke außerdem auf eine Folge solcher Ereignisse reagiert, kann sie zudem unterscheiden, was eher harmlos ist oder nicht. Selbst die niedersten Organismen kategorisieren die Welt in Zeit und Raum.
    Doch solche Kategorisierungen haben immer zwei Seiten. Die Fähigkeit eines Individuums, zu reagieren und zwischen Ereignissen in seiner Umwelt zu unterscheiden, hängt von seinen eigenen internen Unterscheidungen ab, von seiner eigenen Unterteilung in verschiedene Elemente. Die Reaktion einer Pflanze auf die Tageslänge bildet sich in einer bestimmten anatomischen Anordnung ab – der Organisation der Pflanze in einer Abfolge von Blättern, Stängeln und Wachstumsknospen. Die Reaktion einer Venusfliegenfalle beruht auf der räumlichen Anordnung der bewegungsempfindlichen Borsten und der Struktur des Blatts. Die Reaktion eines Seehasen oder eines Menschen setzt spezialisierte Nervenzellen mit bestimmten Empfindlichkeiten und Verbindungen voraus. Diese sind in vielen unterschiedlichen Größenordnungen organisiert und reflektieren damit das Spektrum der Korrelationen in der Umwelt, mit denen das Tier zu tun hat.
    In den vorausgegangen Kapiteln haben wir gezeigt, wie es während der biologischen Entwicklung zu dieser individuellen Organisation kommt. Die internen Anordnungen, die sich daraus ergeben, erlauben jedem Individuum ganz bestimmte Reaktionen. Doch die Reaktionen eines Individuums können auch zurückwirken und seine eigene Organisation beeinflussen. Eine krautige Pflanze schaltet als Reaktion auf die Tageslänge die Blütenbildung an; eine Schnecke verändert als Reaktion auf eine Berührung die Stärke oder die Anzahl ihrer

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