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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Menschen treffen Vorhersagen; auch viele andere Geschöpfe tun es. Wenn Sie sich anschicken, einem Hund einen Ball zuzuwerfen, können Sie seinen Augen und seiner Körperhaltung ansehen, wie er antizipiert oder vorhersagt, wann und wie Sie den Ball werfen werden. Und wenn ein Hundebesitzer seinen Mantel anzieht, wird sein Hund ganz aufgeregt, weil er antizipiert, dass sein Herrchen jetzt mit ihm Gassi geht. Ein Hund baut ständig Erwartungen über die nahe Zukunft auf, genau wie wir.
    Die Fähigkeit von Menschen und anderen Tieren, Vorhersagen zu treffen, ist stark vom Lernen abhängig. Ein neugeborenes Baby verfügt noch nicht über die präzisen Erwartungen eines Erwachsenen, weil es diese durch Lernen aus Erfahrung erst noch aufbauen muss. Genauso wird Sie ein Welpe, dem Sie einen Ball zuwerfen, noch nicht so beobachten und antizipieren wie ein erfahrener Hund. Die Verbesserung unserer Vorhersagen durch Lernen beginnt sofort nach der Geburt – schnell lernt ein Säugling, wann er Nahrung erwarten kann, und weitere Erwartungen folgen ganz schnell. Allerdings sind manche Dinge besser vorhersagbar als andere. Wir können mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, dass morgen die Sonne aufgeht oder dass in ein paar Monaten Frühling ist, aber wir können schon sehr viel weniger sicher sein, ob es morgen um 15 Uhr regnen wird oder gar wie die Gewinnzahlen im Lotto lauten werden. Solches Wissen könnte sehr wertvoll für uns sein, aber es übersteigt unsere Prognosefähigkeit. Die Zauberkraft der Sibyllen liegt nicht darin, dass sie Vorhersagen treffen können – das können wir alle –, sondern darin, dass ihre hellseherischen Kräfte weit über das hinausgehen, was wir normalerweise leisten können.
    Anders als die Sibyllen erwerben wir und andere Tiere unsere Prognosefähigkeit nicht über Zauberkräfte oder durch Nachschlagen in prophetischen Wälzern, sondern über das neuronale Buch der Erfahrung. Wie wird dieses Buch geschrieben? Im vorigen Kapitel haben wir dargelegt, wie unsere Reaktionen sich aufgrund von Modifikationen an den Neuronen verändern können. Ein Seehase kann stärker oder schwächer berührungsempfindlich werden, weil Synapsen zwischen Neuronen durch vorausgegangene Erfahrungen verändert werden. Solche instinktiven Veränderungen unserer Reaktionen sind stark von der evolutionären Vergangenheit abhängig. Wie aber steht es um das Erlernen von Neuem? Unsere Vorfahren vor 10000 Jahren hatten keine Bücher, und den Wolfsvorfahren der Hunde wurden keine Bälle zugeworfen. Dennoch bauen Menschen und Hunde bestimmte Erwartungen auf. Worin besteht die neuronale Grundlage für dieses Lernen? Wenn wir diese Frage zu beantworten suchen, stoßen wir mitten in die Frage, wie wir unser Wissen über die Welt erwerben. Wie schon in den vorigen Kapiteln greifen wir der Einfachheit halber ein paar simple Beispiele heraus, um die umfassendereFrage nach den neuronalen Grundlagen des Lernens zu klären. Beginnen wir mit den Pawlow’schen Hunden.
DER HUNDEPROPHET
    Der russische Forscher Iwan Petrowitsch Pawlow begann seine Untersuchungen über das Lernen um 1900, als er Anfang 50 war. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einige Pionierarbeit über das Verdauungssystem geleistet. Bei diesen Arbeiten hatte Pawlow eine einfache Prozedur entwickelt, mit der er messen konnte, wie viel Speichel ein Hund produzierte, wenn ihm Futter vorgesetzt wurde. Pawlow bemerkte, dass viele Faktoren den Speichelfluss des Hundes bereits auslösen konnten, wenn sie mit der Futtergabe assoziiert wurden: »Reize für die Speicheldrüsen sind bei den psychischen Versuchen (…): das Geschirr, in dem sich diese Gegenstände befinden, das Zimmer, in dem dies alles geschieht, die Menschen, die diese Gegenstände bringen, (…) ihre Stimme, selbst die Geräusche ihrer Schritte.« 61
    Pawlow beschloss, dieses Phänomen systematisch zu untersuchen. Er wählte einen Reiz, der normalerweise keinen stärkeren Speichelfluss auslösen würde, etwa einen Klingelton, und ließ ihn jedes Mal ertönen, kurz bevor der Hund sein Futter vorgesetzt bekam. Irgendwann begann der Hund auch dann stärker zu speicheln, wenn es nur klingelte und danach kein Futter gereicht wurde. Die Reaktion war durch die Klingel bedingt oder konditioniert worden. Dieses Pawlow’sche Konditionieren wird häufig als Beweis dafür interpretiert, dass der Hund lernt, Klingel und Futter zu assoziieren. In der Tat gilt die Pawlow’sche Konditionierung häufig als Beispiel

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