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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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ein Kribbeln in der Hand verspürte, und an einer anderen Region ein Gefühl im Bein. Die Größe dieser Hirnregionen ist nicht direkt proportional zur Größe der entsprechenden Körperteile: Die Handregion etwa ist sehr viel größer als die Beinregion. Penfield illustrierte das, indem er am somatosensorischen Cortex entlang die Körperteile vergrößert oder geschrumpft so groß darstellte, wie es der besetzten Region entsprach (Abb. 51, Mitte). Das ergab einen verzerrten Homunculus mit riesigen Händen und Lippen und winzigen Beinen. Zu der Verzerrung kommt es, weil die Größe jeder Hirnregion im Verhältnis dazu steht, wie häufig und wie komplex die dort eintreffenden Inputs sind: Unsere Hände sind sehr viel dichter mit Berührungsrezeptoren besetzt als unsere Beine.
    Wenn auch die somatosensorische Landkarte verzerrt ist, so entspricht doch die Reihenfolge der Regionen darauf weitestgehend der der Körperteile. Die Region, die dem Bein entspricht, liegt neben der, die mit dem Fuß zu tun hat. Genauso liegen die Regionen, die den Fingern einer Hand entsprechen, nahe beieinander. Wie beim Seehasen spiegeln diese räumlichen Anordnungen Korrelationen im Muster der Inputs – wenn wir einen Apfel festhalten, werden Berührungsrezeptoren überall auf der Hand stimuliert, während andereunbetroffen bleiben. Wenn wir in die Badewanne steigen, werden die Rezeptoren in Beinen und Füßen gleichzeitig gereizt, während andere ruhig bleiben. Unsere neuronale Organisation spiegelt die Verhältnisse, denen wir in unserem Umfeld am häufigsten begegnen.
    Ich habe mich hier auf haptische Reize beschränkt, aber dieselben Grundsätze gelten auch für andere sensorische Systeme. Normalerweise sehen wir einen Apfel an, wenn wir ihn in die Hand nehmen. Vom Apfel reflektiertes Licht reizt Rezeptorzellen (Photorezeptoren) auf der Netzhaut, und diese Signale werden ans Gehirn übertragen und dort auf verschiedenen Ebenen verknüpft. Das Gehirn verfügt über besondere Regionen, die auf diese visuellen Inputs reagieren. Wie die somatosensorischen Regionen sind viele dieser visuellen Regionen als Landkarten organisiert, die auf ihr Input-Muster verweisen, in diesem Fall auf die verschiedenen Regionen der Netzhaut.
    Hauptziel der Verknüpfung all dieser sensorischen Informationen ist es, mit angemessenen Handlungen zu reagieren. Sehen wir einen Apfel, so strecken wir den Arm aus und greifen mit der Hand zu. Dann festigen oder lockern wir vielleicht den Griff, je nachdem, welche Information wir von unserer Hand erhalten. Das alles beruht darauf, dass Signale von den sensorischen Regionen unseres Hirns Neurone beeinflussen, die unsere Handlungen verändern.
    So wie bestimmte Regionen im Hirn sensorische Informationen verarbeiten, kümmern sich andere Regionen um unsere Handlungen. Ein gutes Beispiel dafür ist der primäre motorische Cortex. Penfield entdeckte, dass bei einer Stimulierung dieser Region, die direkt vor dem somatosensorischen Cortex liegt (Abb. 51), bestimmte Gelenke aktiv wurden. So zuckte etwa ein Finger oder beugte sich ein Fußgelenk. Dazu kommt es, weil Signale aus der betroffenen stimulierten Region über bestimmte Bahnen ins Rückenmark wandern. Dort laufen sie weiter und reizen Motoneurone, die auf einer bestimmten Höhe abzweigen und zu bestimmten Muskelkontraktionen führen. Wieder stellte Penfield fest, dass die Regionen des motorischen Cortex als Spiegelbild der Körperregionen organisiert sind; die Regionen, die Hand und Finger steuern, liegen dicht beieinander, und die für die Füße nah an denen für die Zehen (Abb. 51, unten). Das leuchtet auch ein, weil unsere Handlungen gewöhnlich auf koordinierten Bewegungen benachbarter Körperteile beruhen. Wenn wireinen Apfel fester fassen, bewegen sich alle Finger der Hand gleichzeitig; und das spiegelt sich in der Organisation der Hirnregionen wider, die diese Bewegungen steuern.
    Das menschliche Nervensystem ist in einer Reihe verschiedener Größenordnungen organisiert, vom Gesamtaufbau der Nerven im Rückenmark zum Gehirn mit seinen verschiedenen Regionen und Subregionen. Ein Großteil dieser anatomischen Komplexität entsteht im biologischen Entwicklungsprozess. In Kapitel 4 (S. 133–136) haben wir beobachtet, wie der Embryo ein Neuralrohr ausbildet, das schrittweise unterteilt und spezifiziert wird und schließlich Rückenmark und Gehirn bildet. Ein Mensch ist ein wandelnder Bildteppich aus neuronalen Mustern, der seinen Ursprung dem Prozess der

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