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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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neuronalen Verbindungen. In diesen Fällen führt die Reaktion zu einem persistenten oder andauernden Wandel im Organismus. Zu diesen Veränderungen in der Organisation kann es auch schon kommen, solange der Organismus noch wächst und sich entwickelt. Eine Pflanze bildet Blüten, während sie wächst, und eine Schnecke kann schon auf ihre Umwelt reagieren, bevor sie ausgewachsen ist. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen der biologischen Entwicklung und den Reaktionen, die sie fördert. Denn interne Anordnungen sind nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern können sich in gewissem Ausmaß als Reaktion auf die Umwelt verändern, auch wenn die biologische Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Unsere instinktiven Reaktionen werden durch die biologische Entwicklung nicht nur erst ermöglicht, sondern sind eng mit ihr verwoben.
    Alle bisher behandelten Reaktionen wurden von der evolutionären Vergangenheit des Organismus vorgegeben. Über viele Generationen hinweg wurden durch natürliche Selektion bestimmte Reaktionen gefördert: wie eine Bakterie auf Zucker reagiert, eine Pflanze auf die Tageslänge oder ein Tier auf Berührung. Doch viele Tiere zeigen auch Reaktionen auf Umweltereignisse, die in ihrer Evolutionsgeschichte wohl nie aufgetreten sind. Ein Hund kann lernen, die Stimme seines Herrchens zu erkennen, obwohl seine Wolfsvorfahren diesem Geräusch nie ausgesetzt waren. Eine Ratte kann lernen, einen Weg durch ein Labyrinth zu finden, obwohl ihre Vorfahren so etwas nie getan haben. Diese Fähigkeiten beruhen darauf, dass neue Bezüge zwischen Umweltelementen erlernt werden, etwa der Bezug zwischen einem Geräusch und einer Person oder zwischen den Biegungen in einem Labyrinth. Pflanzen und Mikroorganismen verfügen über diese Fähigkeit, neue Bezüge zu erlernen, offenbar nicht. Gras lernt nicht, sich zu ducken, wenn ein Rasenmäher zu dröhnen beginnt. Und das liegt nicht nur daran, dass seine Fähigkeit, Geräusche wahrzunehmen und darauf zu reagieren, eingeschränkt ist; vielmehr können Pflanzen in einer Lebensspanne offenbar keine neuen Bezüge erlernen. Obwohl Pflanzen und Mikroorganismen sehr detailliert und raffiniert auf ihre Umwelt reagieren können, bleiben diese Reaktionen immer instinktiv und beruhen auf Erfahrungen aus ihrer Evolutionsgeschichte.
    Neue Bezüge zu erlernen, ist Tieren mit hoch entwickelten Nervensystemen vorbehalten – von Fliegen und Schnecken bis hin zu Hunden und Menschen. Wie aber kommt es dazu? Wie wir sehen werden, setzt das viele der bereits beschriebenen Komponenten voraus, die aber auf ganz bestimmte Weise kombiniert werden müssen. Und dazu kommt es durch unsere dritte Anwendung der Formel des Lebens.

K APITEL 7
DIE NEURONALE SIBYLLE
    Zu den beeindruckendsten Gemälden Michelangelos gehören die Fresken der fünf Sibyllen an der Decke der Sixtinischen Kapelle (Abb. 52). Sibyllen waren in der Antike göttlich inspirierte Frauen, die der Legende nach die Gabe besaßen, die Zukunft vorhersagen zu können. Auf Michelangelos Darstellungen sehen wir die Sibyllen mit eigentümlichen Büchern, in denen die Prophezeiungen niedergeschrieben waren. Sibyllen wurden befragt wie heute Hellseherinnen: um herauszufinden, was einem bevorstand. Es ist für uns von großem Wert, die Zukunft vorhersagen zu können, denn wenn wir wissen, was geschehen wird, können wir uns vorbereiten und unsere Handlungen entsprechend anpassen.
    (52) Die libysche Sibylle . Michelangelo Buonarroti, 1511.
    Vorhersagen über die Zukunft sind nicht Sibyllen, Propheten und Hellsehern vorbehalten; sie gehören zu unserem Alltag. Wir machen so viele Prognosen, dass wir uns ihrer kaum bewusst sind. Wenn Sie diese Seite umblättern, erwarten Sie auf der nächsten Seite weiteren Text. Würden Sie dort weiße Seiten vorfinden, wären Sie erstaunt und würden sich fragen, ob da bei der Buchherstellung ein Fehler unterlaufen ist. Und wenn Sie das Buch irgendwo ablegen und weggehen, um eine Tasse Tee zu trinken, dann erwarten Sie, das Buch dort wiederzufinden, wo Sie es zurückgelassen haben. Solche bescheidenen Erwartungen als Vorhersagen zu bezeichnen, klingt vielleicht etwas hochtrabend, aber es sind dennoch Vorhersagen. Jede Erwartung an die Zukunft ist eine Vorhersage, eine Vorwegnahme dessen, was gleich passieren wird. Ohne dauernde Prognosen wäre unser Leben unmöglich; wir wären ständig verängstigt undwüssten nie, was hinter der nächsten Ecke liegt und womit wir rechnen müssen. 60
    Nicht nur

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