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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Das führt dazu, dass bestimmte Gene an- oder ausgeschaltet werden; irgendwann bewirkt dies eine länger andauernde Schwächung der markierten Synapse und zuweilen gar ihre Vernichtung. Wie beim Blütentrieb von Pflanzen beruht länger andauernde Persistenz also auf Genregulation.
    Wir haben bisher untersucht, wie sich die Empfindlichkeit der Schnecke reduzieren lässt; es gibt aber auch Situationen, in denen es zur entgegengesetzten Wirkung kommt. Verabreichen wir dem Seehasen nicht einen relativ harmlosen Reiz wie eine Berührung des Siphos, sondern etwas sehr Unangenehmes – zum Beispiel einenElektroschock am Fußende –, so wird seine Aufmerksamkeit dadurch gesteigert. Seine Reaktionen auf die Umwelt fallen jetzt sehr viel stärker aus: Bei einer erneuten Berührung des Siphos zieht er die Kiemen ganz entschieden zurück. Man sagt, der Seehase ist durch den vorausgehenden Schock sensibilisiert worden. Wie die Habituation beruht auch die Sensibilisierung auf persistenten Veränderungen, nur dass in diesem Fall die Reaktivität des Tiers gesteigert statt reduziert wird.
    Der Mechanismus der Sensibilisierung ist in vielerlei Hinsicht komplementär zur Habituation. Bei der Kurzzeitsensibilisierung werden ausgewählte Synapsen zeitweilig gestärkt; das entspricht einer verstärkten Ausschüttung von Neurotransmittern, wenn ein elektrisches Signal einläuft. Bei der Langzeitsensibilisierung werden die Synapsen nicht nur dauerhafter gestärkt, sondern es werden außerdem mehr davon gebildet, die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen werden also vermehrt. Statt beispielsweise zwei Synapsen zwischen der schwarzen und der grauen Nervenzelle haben wir nun vielleicht vier oder fünf. Wie bei der Langzeithabituation ist dazu die Aktivierung von Genen nötig, was durch Signalaustausch zwischen Synapsen und Zellkern erreicht wird.
REAKTIONEN BEIM MENSCHEN
    Das menschliche Gehirn ist zwar sehr viel komplizierter als die Ganglien der Schnecke, hat aber in seinem Aufbau einige Grundmerkmale mit ihnen gemeinsam. Wie beim Seehasen ist die Hauptfunktion des menschlichen Gehirns die Verknüpfung sensorischer Informationen und die Auslösung geeigneter Reaktionen. Betrachten wir als Beispiel unsere Reaktion auf Berührungen. Berührungsempfindliche Neurone in unserer Haut verfügen über Axone, die bis ans Rückenmark reichen, einem langen Strang aus Nervenfasern, der innerhalb des Wirbelkanals verläuft (Abb. 50). Für einfache Reflexe ist das Rückenmark der Kontaktpunkt für sensorische und motorische Neurone – eine ähnliche Rolle spielt beim Seehasen das Abdominalganglion. Beim Kniesehnenreflex etwa reizt ein Klopfen auf das Knie sensorische Neurone, die über ihre Axone ein Signal an das Rückenmark senden. Dort sind die Axon-Enden über Synapsen mit Motoneuronen verbunden, die das Signal vom Rückenmark aus wieder zurück ans Bein senden und dort die Muskelkontraktion und damit die Reflexbewegung auslösen.
    (50) Das Nervensystem des Menschen.
    Das Gehirn selbst kommt erst bei komplexeren Reaktionen ins Spiel, denen höhergradige Verknüpfungen zu Grunde liegen. Nehmen wir einen Apfel in die Hand, so spüren wir, wie groß er istund welche Form er hat, und das wirkt sich darauf aus, wie wir zugreifen. Ohne Informationsfluss von der Hand zum Gehirn und zurück würden wir vielleicht zu schwach zugreifen, und der Apfel würde uns aus der Hand fallen. Das ist sehr viel komplizierter als eine einfache Reflexreaktion. Ergreifen wir den Apfel, so erreichen sensorische Signale aus der Hand das Rückenmark und werden über weitere Neurone ans Gehirn weitergeleitet. Dort werden die Signale in mehreren verschiedenen Regionen verknüpft. Eine davon ist ein Streifen in der Großhirnrinde oder dem Cortex, der so genannte primäre somatosensorische Cortex (Abb. 51, oben).
    (51) Die somatosensorischen und motorischen Regionen des menschlichen Cortex in Seitenansicht (oben) und als Mittelschnitt (Mitte und unten).
    Der somatosensorische Cortex verfügt über einen bemerkenswerten Aufbau, den der Neurochirurg Wilder Penfield und sein Team an der McGill University Montreal in den 1930er und 1940er Jahren offenlegten. 59 Penfield operierte Patienten mit Gehirntumoren und wollte bestimmen, welche Hirnregionen von dem Tumor betroffen waren, um die wahrscheinlichen Auswirkungen einer Entfernung des Tumors abschätzen zu können. Er fand heraus, dass der Patient nach einer elektrischen Stimulierung einer Region auf dem sensorischen Cortex

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