Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
Vom Netzwerk:
wohlschmeckendes Stück Seegras sieht anders aus als ein ungenießbares Stückchen Fels. Es bestehen nämlich charakteristische Zusammenhänge zwischen der Art, in der Gegenstände Licht reflektieren, und ihrem Material. Diese Verhältnisse kann die Schnecke erfassen, indem sie Informationen aus den verschiedenen Ganglien miteinander verknüpft, in diesem Fall aus dem Buccal- und dem Cerebralganglion. So kann die Schnecke etwa lernen, dass das Erblicken von Seegras ein guter Indikator für Futter im Mund ist, nicht aber das Erblicken eines Felsens. (Wie solches Lernen vor sich geht, untersuchen wir im folgenden Kapitel.) Sehr viele Axone verlaufen deshalb zwischen den Ganglien und übertragen Informationen von einem zum anderen, so dass auf weitläufigere Assoziationen und Unterscheidungen reagiert werden kann. So erfasst die Anatomie des Tiers Umweltverhältnisse in ganz unterschiedlichen Größenordnungen.
    Alle diese anatomischen Beziehungen werden beim Seehasen im biologischen Entwicklungsprozess eingerichtet. Der Aufbau seines Nervensystems – vom Muster der Ganglien bis hin zu den einzelnen Senso- und Motoneuronen mit ihrer Grundempfindlichkeit und ihren Verknüpfungen – ergibt sich während der Entwicklung aus der Eizelle. Die innere Organisation, die so entsteht, erlaubt es der Schnecke, zwischen verschiedenen Merkmalen ihrer Umwelt zu unterscheiden und entsprechend zu reagieren. Wie eine Pflanze zerlegt der Seehase die Welt, indem er sich zunächst selbst zerlegt.
MUSTER IN DER ZEIT
    Wie auf einzelne Ereignisse können tierische Nervensysteme auch auf zeitliche Ereignisfolgen reagieren. Stimulieren wir wiederholt den Sipho der Schnecke, so wird der Kiemenrückziehreflex allmählich abgeschwächt, genauso wie sich Mimosenblätter an das andauernde Rütteln des Windes gewöhnen. Wir haben hier einen Fall dessen, was Marcel Proust den anästhetisierenden Einfluss der Gewohnheit nannte – wir reagieren immer weniger, wenn uns etwas, das wir als harmlos wahrnehmen, vertraut wird.
    Bei allen Formen der Reizgewöhnung oder Habituation muss derReiz eine Zeit lang andauern können, damit er die Reaktion beim nächsten Durchgang abschwächen kann. Beim Seehasen tritt diese Persistenz in zwei Formen auf: kurzfristig und langfristig. Reizen wir den Sipho 40 Mal in Folge, so ergibt sich daraus eine Habituation, die etwa einen Tag lang andauert. Anders gesagt, einen Tag lang reagiert die Schnecke weniger stark auf Berührungen am Sipho, danach ist die Sensitivität wieder normal. Wenn wir aber vier Tage lang die Schnecke je zehnmal reizen, bleibt die Habituation vier Wochen lang erhalten – die verringerte Reaktivität des Seehasen ist dann viel stärker persistent. Worauf beruhen diese kurz- und langfristigen Veränderungen?
    Kurzzeithabituation beruht auf Veränderungen der Synapsenstärken im Ganglion (Abb. 49). Wiederholtes Feuern des Sensorneurons (schwarz) führt zu einer Schwächung der Synapsen, die es mit dem Motoneuron (grau) verbinden, und reduziert die Wirksamkeit des Signals. Wir symbolisieren das, indem wir die Synapsen im mittleren Diagramm von Abbildung 49 mit kürzeren Strichen darstellen. Die Schwächung der Synapsen bewirkt eine molekulare Veränderung an den Enden des schwarzen Neurons, so dass sie nach dem Eingang eines elektrischen Impulses kleinere Mengen des erregenden Neurotransmitters Glutamat ausschütten. Nach einem bestimmten Zeitraum erlangt jede Synapse wieder ihre Normalstärke – deshalb die kurze Dauer des Sensitivitätswandels.
    (49) Auswirkungen der Kurz- und Langzeithabituation.
    Bei der Langzeithabituation kommt es zu länger persistenten Veränderungen in der Synapse. Die Synapsen werden dabei nicht nur dauerhafter geschwächt, sondern sie werden auch weniger – die Veränderung findet sowohl in der Anatomie als auch in der Funktionalität jeder Synapse statt. Wir sehen das auf dem rechten Diagramm in Abbildung 49, wo jetzt nur noch eine Synapse das schwarze und das graue Neuron verbindet. Diese länger andauernden Veränderungen in der Synapse beruhen auf dem An- oder Ausschalten von Genen im Zellkern des schwarzen sensorischen Neurons. Die wiederholte Reizung einer Synapse führt zunächst zu vorübergehender Schwächung, der Kurzzeithabituation. Damit ist die Synapse als veränderlich markiert. Wiederholt sich das Reizmuster mehrere Tage lang, so werden von der geschwächten Synapse aus immer wieder Botenstoffe an den Zellkern des schwarzen sensorischen Neurons gesandt.

Weitere Kostenlose Bücher