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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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ist an bestimmte Erwartungen gebunden. Bewusst werden wir uns dieser Erwartungen im Fall von Diskrepanzen. Werden wir schlechter bezahlt als erwartet, so fällt uns die Diskrepanz auf, und wir beschweren uns vielleicht bei unserem Arbeitgeber. Oder wir gehen in einen Laden und wollen einen Apfel kaufen, stellen aber fest, dass der Preis für Äpfel inzwischen plötzlich angestiegen ist, und dieser Unterschied fällt uns auf. Gehen wir nach Hause und stellen fest, dass der Apfel saurer ist als erwartet, so fällt uns eine weitere Diskrepanz auf. Geht aber alles nach Plan, werden unsere Erwartungen erfüllt, so nehmen wir vielleicht kaum wahr, was eigentlich abläuft. Erst durch die Diskrepanzen macht die Welt sich uns bemerkbar. 76
    Lernen setzt beständige Reaktionen auf Diskrepanzen und damit eine Anpassung der Erwartungen voraus. Bekommen wir eine Gehaltserhöhung, so gibt uns das anfangs ein gutes Gefühl, weil unsere Belohnung die Erwartung übersteigt. Doch wir lernen sehr schnell, dieses neue Gehalt zu erwarten, und wären enttäuscht, wenn wir wieder zur vorigen Summe zurückkehren würden. Dasselbe gilt für Preissteigerungen oder die Qualität der gekauften Äpfel. Vielleicht sind solche Ereignisse komplexer als der Speichelfluss beim Pawlow’schen Hund oder die Handlung des Affen, der nach seiner Belohnung greift – die neuronalen Grundlagen aber sind dieselben. Wir lernen aus Diskrepanzen und passen unsere Erwartungen dementsprechend an: Die Diskrepanzen werden während dieses Prozesses verschoben.
    Genau dieser relative Aspekt des Lernens, die beständige Verschiebung der Diskrepanzen, hält unsere neuronale Reise in Bewegung. Könnten wir irgendwie alle Diskrepanzen aus der Welt schaffen, so würde der Lernprozess stehen bleiben. Nehmen wir an, wir könnten problemlos in die Zukunft sehen und genau vorhersagen, was als nächstes passiert. Es gäbe dann keine Überraschungen mehr, keine Diskrepanzen, über die wir uns Sorgen machen müssten, und wir hätten nichts mehr zu lernen. Das klingt vielleicht wie ein Idealzustand. So, wie unser Gehirn funktioniert, wäre es aber eine mentale Betäubung. Würde uns nichts mehr überraschen, so würde nichts unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, keine Diskrepanz unserenVerstand beanspruchen. Eine perfekte Kenntnis der Zukunft würde mental wirken wie Morphium.
    In der Praxis besteht kaum ein Risiko, dass wir diese Allwissenheit erlangen. Denn so reich und komplex unsere Gehirne auch sind, die Welt um uns ist noch viel reicher. Wir können gerade hoffen, einen winzigen Bruchteil der Komplexität rund um uns zu erfassen, und Diskrepanzen und neue Probleme wird es immer genügend geben. Deswegen haben auch Sibyllen, Propheten und Hellseher noch schöne Tage vor sich. Lernen wird die Herausforderungen nie komplett ausschalten, sondern uns höchstens vor neue stellen.
    Diskrepanzen sind für uns so wichtig, dass wir sie sogar zu unserer Unterhaltung selbst erschaffen. Filme oder Bücher hören gerne auf, wenn alle zufrieden sind – wenn keine Diskrepanzen mehr übrig sind, hält uns nichts mehr. Das könnte man ärgerlich finden, denn wenn wir ein Drama miterlebt haben, wollen wir danach vielleicht auch eine Weile das Glück genießen. Doch wenn einmal alle Diskrepanzen der Geschichte aufgelöst sind, verlieren wir das Interesse; das Happy End ist demnach in der Regel weit kürzer als die Geschichte, die ihm vorausgeht. Eine ähnliche Feststellung trifft Tolstoi zu Beginn seines Romans Anna Karenina : »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie aber ist auf ihre Art unglücklich.« 77 Gerade die Misstöne machen uns neugierig.
    Dasselbe gilt auch für das Lehren. Damit ein Schüler lernt, braucht er eine Diskrepanz, an der er sich festhalten kann. Hat der Schüler das Gefühl, er hat bereits verstanden, oder sieht er gar kein Problem, so wird er kaum einen Lernfortschritt machen. Ein guter Lehrer muss also im Schüler Diskrepanzen auslösen, ihm ein Problem oder eine Frage vorlegen, die ihn erregt oder packt. Und hat der Schüler dann ein bestimmtes Problem begriffen, indem er die Diskrepanz aufgelöst hat, so muss für den nächsten Lernschritt eine neue Diskrepanz aufgestellt, ein neues Problem zur Lösung vorgelegt werden.
EINE FORMEL FÜR DAS LERNEN
    Jeder von uns unternimmt seit seiner Geburt seine ganz eigene neuronale Reise. Das Gehirn eines Neugeborenen transportiert im Aufbau seiner neuronalen Verknüpfungen und

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