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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Wechselwirkungenbereits eine Reihe von Erwartungen. Auch besitzt es eine Reihe neuronaler Werte, also Reaktionsmuster auf Reize, die als Belohnungen oder Strafe wirken können und seinen frühen Standort im neuronalen Raum spiegeln. Wo der liegt, hängt davon ab, wie das neuronale Gewebe des Embryos genau gewachsen ist und sich entwickelt hat, wie also unser Gehirn mit seiner komplexen Struktur entstanden ist. Wenn das Neugeborene zur Erkundung der Welt aufbricht, trifft es auf Diskrepanzen, die zu einer Verschiebung der Erwartungen führen und es in neue Regionen des neuronalen Raums vordringen lassen. Das wiederum verändert den neuronalen Kontext und bringt sowohl neue Diskrepanzen auf wie auch neue Werte, die mit den vorigen in Verbindung stehen. Und so geht der Prozess immer weiter, die neuronale Reise spornt sich selbst immer weiter an. Jeder von uns hat seine eigene, einmalige neuronale Reise, weil wir von unterschiedlichen Standorten im neuronalen Raum starten und weil wir unsere ganz eigenen Erfahrungen machen. Vorangebracht aber wird die Reise vom immer gleichen Ablauf sich wiederholender Prozesse. Wir erkennen wieder das Prinzip der Rekurrenz, diesmal angewandt auf das Lernen.
    Bei der Evolution ergibt sich Rekurrenz daraus, dass die natürliche Selektion immer relativ wirkt. Wenn Anpassungen sich in einer Population ausgebreitet und durchgesetzt haben, erbringen alle Individuen bessere Leistungen, und es kommt zum Wettbewerb um noch wirksamere Anpassungen. Bei der biologischen Entwicklung besteht die Rekurrenz in der fortgesetzten Verschiebung der Genaktivität in einem wachsenden Embryo. Wurde ein Muster verändert, so verschiebt es den molekularen und zellulären Kontext und führt damit zu einem anderen Schema von Genaktivierungen und Umwandlungen. Beim Lernen zeigt sich die Rekurrenz in wieder anderer Form. Sind die einen neuronalen Diskrepanzen gelöst, so werden neue eingerichtet, die wieder neue Lernrunden auslösen. In allen drei Fällen hält also die Rekurrenz die Reise in Gang.
    Wie Evolution und biologische Entwicklung beruht auch das Lernen auf einer Kombination verbreiteter, einander beeinflussender Prinzipien, nur diesmal in neuronaler Gestalt. Das Kernschema des Lernens ist eine doppelte Rückkopplungsschleife, bei der die neuronale Aktivität sich selbst verstärkt und sich zugleich durch Wettbewerb selbst Grenzen setzt. In Gang gehalten werden diese Schleifen durch die Variabilität der Feuerungsraten, die sich aus einer Population von Erfahrungen ergibt und persistente Veränderungen der Synapsenstärke und -anzahl bewirkt. Möglich wird das durch kooperierende Wechselwirkungen mehrerer Neurone, die gemeinsam einen ausgedehnten Raum möglicher Kombinationen bilden. Jeder Lernschritt führt zu einer Verlagerung im neuronalen Raum; er baut dabei immer auf den jeweils vorigen neuronalen Kontext auf, und damit verändert sich das Gehirn und verschiebt sich der Kontext. Den Kern des Lernprozesses bildet dieselbe Kombination wechselwirkender Prinzipien, die auch bei Evolution und biologischer Entwicklung greifen. Das Lernen ist unsere dritte Manifestation der Formel des Lebens. Allerdings treibt es die Organismen nicht mehr durch den genetischen oder den Entwicklungsraum – mit dieser Variante der Formel geht es auf die Reise durch den neuronalen Raum.

K APITEL 8
LERNEN DURCH HANDELN
    Wie Evolution und biologische Entwicklung ist also das Lernen eine Manifestation der Formel des Lebens. Ich könnte mit dem Lernen hier abschließen, da wir ja die Prinzipien, denen es zu Grunde liegt, dargestellt haben. Damit würden aber sehr viele Fragen offen bleiben. In welchem Bezug stehen unsere Grundprinzipien mit Phänomenen wie Gedächtnis, Bewegung, Aufmerksamkeit, Wiedererkennen, Sprache, Kreativität und Bewusstsein? Jede dieser kognitiven Fragestellungen ist Gegenstand intensiver Forschungen, aber leider wissen wir darüber, wie das Lernen im neuronalen Detail abläuft, immer noch nicht sehr viel. Deshalb können die Prinzipien, auf die wir gestoßen sind, einen Rahmen, ein konzeptionelles Instrumentarium bieten, mit dem wir begreifen können, wie Lernen in solchen Fällen funktioniert. Wenn wir die Kognition aus dieser Perspektive betrachten, können wir einige weitere Verzweigungen des Lernens untersuchen und zugleich die Kulisse für die spätere Betrachtung des kulturellen Wandels aufstellen.
    Wir können bei Weitem nicht alle Gebiete der Kognition abdecken; ich konzentriere mich also auf

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