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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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zur Seite gerückt, so würde der Affe mit denselben Muskelanspannungen diesmal daran vorbeigreifen. In der Praxis passt der Affe seine Handlungen an, wenn er sieht, dass die Box an einer anderen Stelle steht, und findet die Belohnung, sobald er das Türgeräusch hört. Offenbar erlernt der Affe also nicht, bestimmte Muskeln anzuspannen, sondern Handlungen, die an bestimmte Ziele gebunden sind. Verschiebt sich die Box, so bleibt doch das Ziel, an den Apfel zu kommen, dasselbe, und der Affe passt seine Bewegungen dementsprechend an.
    Wie können nun Tiere zielgerichtete Handlungen erlernen? Um diese Frage zu beantworten, beginnen wir am besten mit der Kalibrierung körperlicher Bewegungen, denn das ist einer der grundsätzlichsten Fälle, in denen Handlungen mit ihren Auswirkungen in Bezug gesetzt werden. Im ersten Schritt wollen wir auf neuronaler Ebene genau das durchführen, was wir bei der Kalibrierung einer Bombarde getan haben.
AUGENSPRÜNGE
    Die häufigste Handlung unseres Lebens ist die Bewegung unserer Augen. Betrachten wir eine Szene, so springt unser Blick ständig von einer Stelle zur anderen. Diese schnellen Blicksprünge oder Sakkaden werden in Abbildung 58 für einen Betrachter dargestellt, der 20 Sekunden lang Cézannes Stillleben mit grünem Gefäß und Zinnkessel ansieht. In dieser kurzen Zeit sind die Augen vielfach herumgesprungen und hielten meist in der Nähe von Gegenständen inne, etwa dem Apfel oder dem Rand des Gefäßes. Diese Augenbewegungen sind schneller als der Herzschlag – wir führen etwa drei Sakkaden pro Sekunde durch, im Lauf des Lebens also mehrere Milliarden. Manche Sakkaden stellen relativ große Sprünge dar, etwa vom Apfel zum Gefäß; andere dagegen sind eigentlich winzige Hüpferchen um ein einzelnes Gebiet (so genannte Mikrosakkaden). Die meisten Sakkaden sind uns kaum bewusst – sie werden unbewusst durch Aktivitäten unseres Gehirns gesteuert. Nicht nur der Mensch vollzieht Sakkaden; auch für viele andere Tiere vom Tinten- bis zum Goldfisch sind sie typisch. 79
    (58) Zwanzigsekündige Augenbewegung eines Betrachters des Stilllebens mit grünem Gefäß und Zinnkessel . Paul Cézanne, um 1869.
    Dass wir überhaupt Sakkaden durchführen, liegt an einer Einschränkung unserer Augen. In einer zentralen Region der Netzhaut, der so genannten Fovea, sitzen sehr viel mehr lichtempfindliche Photorezeptoren; wir sehen dort also sehr viel schärfer als an der Peripherie. Indem wir die Augen aktiv herumstreifen lassen und unsere Blickrichtung verschieben, gelangen verschiedene Bereiche des Bildes in die hochauflösende Zone, und wir erhalten insgesamt mehr Informationen über die Szene. Daraus folgt aber, dass das Bild auf unserer Netzhaut ständig wechselt, während wir ein festes Motiv wie ein Gemälde ansehen. Für die Netzhaut ist das, als würde jemand ein Gemälde, das wir ohne Augenbewegung anschauen, ständig verrücken. Wenn wir selbst unsere Augen über das Bild bewegen, nehmen wir aber gar kein Hüpfen wahr. Warum eigentlich nicht?
    Ein Teil der Antwort lautet, dass wir visuelle Bewegung nicht registrieren, wenn unsere Augen gerade fliegen, also während des Springens von einem Punkt zum nächsten. 80 Betrachten wir im Spiegel unser linkes Auge und verlagern den Blick dann auf das rechte Auge, können wir daher nicht erkennen, dass sich das rechte Auge während dieses Vorgangs leicht verschoben hat. Unsere Fähigkeit, Bewegung zu erkennen, ist offenbar unterdrückt, solange das Auge im Sprung ist. Diese Unterdrückung erklärt zum Teil, warum wir kleine Augenbewegungen nicht wahrnehmen können. Bei größeren Sakkaden kommt aber etwas anderes ins Spiel: die Kalibrierung. Wenn wir größere Augensprünge initiieren, etwa auf Cézannes Gemälde vom Apfel zum grünen Gefäß, dann weiß unser Gehirn gewissermaßen, was es zu erwarten hat, wenn die Augen ankommen. Werden diese Erwartungen erfüllt, so nehmen wir keine Bewegung wahr. Verrückt aber jemand das Gemälde, während unsere Augen in Bewegung sind, so würden wir beim Landen der Augen etwas Unerwartetessehen und somit registrieren, dass etwas nicht stimmt. Das lässt sich gut mit der Situation vergleichen, in der eine kalibrierte Bombarde feuert. Wenn alles nach Plan läuft, können wir richtig vorhersagen, wo die Kugel landen wird. Würde aber jemand die Landschaft verschieben, während die Kugel in der Luft ist, so würde sie an einer unerwarteten Stelle landen, und wir wüssten dann, dass etwas Ungewöhnliches

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