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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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eines fahrenden Zuges, so spüren wir, dass die Welt sich im Verhältnis zu uns bewegt. Die Diskrepanzneurone feuern, weil wir Signale vom Sichtgeschwindigkeitsneuron erhalten, aber gleichzeitig kein ausgleichendes Signal von Neuronen eingeht, die Kopfbewegungen spüren oder steuern. 90 Die dadurch bewirkte Diskrepanz führt dazu, dass wir externe Bewegung wahrnehmen. Unser Gefühl der Bewegung ist relativ, es beruht darauf, inwieweit die Inputs der sensorischen Systeme von dem abweichen, was wir auf Grund unserer eigenen Handlungen erwarten.
    Ich habe ausführlich dargestellt, wie wir unsere Handlungen in Abhängigkeit von den visuellen Inputs kalibrieren; dieselben Prinzipien gelten aber auch für die Inputs anderer Sinnesorgane. Stehen wir in einem dunklen Raum neben einer Person und strecken die Hand vor, um sie zu berühren, so rechnen wir das Druckgefühl an der Hand unserer eigenen Handlung zu. Die Person steht fest, und wir haben sie berührt. Strecken wir aber starr den Arm aus, und plötzlich spüren wir den Körper der Person an unserer Hand, dann nehmen wir an, dass sie sich bewegt hat und nicht wir. Das Gefühl in der Hand ist vielleicht in beiden Fällen genau identisch, aber nur bei einem nehmen wir externe Bewegung wahr. Denn wir haben zuvor gelernt, unsere Körperhandlungen in Abhängigkeit von ihren Auswirkungen zu kalibrieren. In vielen vorausgegangen Handlungen, angefangen mit dem unkontrollierten Herumrudern als Baby, haben bestimmte Diskrepanzneurone gelernt, sich je nach den Auswirkungen unserer Bewegungen auf eine Aktivität in der Grundrate einzupendeln. Erst wenn die Wahrnehmungen von dieser Erwartung abweichen, spüren wir externe Bewegung.
    Eine Handlung, bei der all diese Kalibrierungstypen mitspielen, ist das Gehen. Gehen wir durch eine unbewegte Landschaft, so spürenwir, dass jede Bewegung von unserer eigenen Handlung abhängt. Da wir zuvor die Signale aus unseren Füßen, Beinen, Augen und dem Kopf untereinander und mit den Neuronen, die ihre Aktivität steuern, kalibriert haben, spüren wir, dass wir durch eine stabile Welt gehen. Stehen wir dagegen auf einem Rollband, so spüren wir, dass wir bewegt werden. Zwar ähnelt die visuelle Information, die wir erhalten, stark dem, was wir beim Gehen wahrnehmen, aber die Neurone, die normalerweise feuern, wenn wir unsere Beine bewegen, verhalten sich still. Diese Abweichung von der Erwartung reizt bestimmte Diskrepanzneurone, die uns den Eindruck extern gesteuerter Bewegung verschaffen. Wenn wir dann auf dem Rollband selbst anfangen zu gehen, bekommen wir den Eindruck, dass die Sichtverschiebungen, die wir wahrnehmen, von unseren eigenen Handlungen ausgelöst werden. Es besteht aber noch immer eine gewisse Diskrepanz, weil die Sichtverschiebungen größer sind als nach den früheren Geherfahrungen zu erwarten wäre. Unser Eindruck ist also der, dass wir viel schneller gehen können als normalerweise.
    Solche Kalibrierungen sind deshalb so wichtig, weil wir uns damit in der Welt verankern und somit effizienter darin handeln können. Sehen wir einen Apfel an einem Baum hängen, dann gehen wir relativ geradlinig darauf zu und pflücken ihn. Stellen wir uns aber einmal vor, wir hätten unsere Handlungen zuvor nicht mit ihren Auswirkungen kalibriert. Beim Betrachten des Apfels würde die Szene vor uns mit jeder unserer Augenbewegungen scheinbar herumhüpfen. Wenn wir den Kopf dem Apfel zuwendeten, würde sich alles vor unseren Augen zu drehen beginnen. Und wenn wir auf den Baum zuzulaufen versuchten, hätten wir das Gefühl, der Boden unter unseren Füßen würde sich bewegen und sich unseren Füßen entgegenwölben. Alles würde um uns herum treiben, und je mehr wir uns abmühen würden, alles zu korrigieren, desto schlimmer würde es. Statt geschmeidig auf den Apfel zuzugehen, würden wir herumstolpern wie ein verwirrter Trunkenbold.
    Die Fähigkeit, uns in der Welt zu verankern, beruht auf einer ganzen Reihe wechselseitiger Kalibrierungen. Über solchen kombinatorischen Reichtum können unsere Neurone die verschiedensten Handlungen und ihre sensorischen Auswirkungen integrieren. Dadurch können wir beständig aus Diskrepanzen lernen, indem wir eine Komponente in Abhängigkeit von einer anderen beurteilen.Wenn wir immer wieder dasselbe relative System anwenden, lernen wir schließlich, die verschiedensten Systeme gegeneinander zu kalibrieren und damit effizienter zu handeln. Die Prinzipien des kombinatorischen Reichtums und der Rekurrenz

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