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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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spielen nicht nur beim Lernen aus der Umwelt eine wichtige Rolle, sondern sind auch entscheidend für unser Handeln.
AKTIV AUF REISEN
    Im vorigen Kapitel haben wir uns das Lernen als Reise durch den neuronalen Raum vorgestellt. Jetzt wissen wir, dass diese Reise nicht einfach nur darin besteht, dass wir auf Ereignisse in unserer Umwelt reagieren. Wir handeln ständig selbst und verändern damit unsere Erfahrungen. Wenn wir unsere Augen bewegen oder unseren Kopf drehen, erfahren wir neue Ansichten. Daraus, wie unsere Handlungen unsere Erfahrungen beeinflussen, können wir dann lernen und diese Information so rückkoppeln, dass sie künftige Handlungen und Erfahrungen beeinflussen. Unsere Reise durch den neuronalen Raum ist nicht passiv, sie wird nicht nur von unserer Umwelt und unseren Sinneswahrnehmungen angetrieben; sie ist ständig an unser Handeln rückgekoppelt.
    Bei unserer Geburt sind einige instinktive Handlungen und Reaktionen bereits eingerichtet – man muss nur einmal sehen, wie ein Neugeborenes strampelt und mit Armen und Beinen rudert. Diese instinktiven Reaktionen aber stellen nur eine Ausgangsbasis für eine sehr viel längere neuronale Reise dar, auf der unsere Handlungen und Erfahrungen einander ständig gegenseitig beeinflussen. In diesem Prozess lernen wir, wie Handlungen und ihre Wirkungen sich zueinander verhalten, und das befördert uns in neue Regionen des neuronalen Raums. Die Kalibrierung illustriert, nach welchem Prinzip sich solches Lernen vollzieht. Unsere Beispiele sind allerdings allenfalls die Spitze des Eisbergs.
    Kommen wir noch einmal auf die Versuche von Romo und Schultz aus dem vorigen Kapitel zurück, bei denen der Affe lernte, auf ein Türgeräusch zu reagieren und daraufhin in einer Box ein Stück Apfel zu finden. Das lässt sich in zwei Arten von Lernen unterteilen: Zunächst wird die Handlung erlernt, die zum Auffinden der Belohnungnötig ist – nämlich in die Box zu fassen. Als zweites wird erlernt, dass das Türgeräusch vorhersagt, dass diese Handlung zu einer Belohnung führen wird. (Ohne das Türgeräusch bleibt die Box geschlossen und für den Affen unzugänglich). Diese beiden Schritte wollen wir nun nacheinander untersuchen.
    Bevor der Affe darauf trainiert wurde, auf das Türgeräusch zu reagieren, ließen die Forscher Romo und Schultz die Tür zur Box eine Zeit lang offen und gaben dem Affen damit Gelegenheit zu lernen, dass er durch Greifen in die Box gelegentlich eine Apfelbelohnung erhalten konnte. Dieses Lernen ist auf selbstinitiiertes Erkundungsverhalten des Affen zurückzuführen. Der Affe braucht kein externes Signal, um sein Umfeld zu erkunden; er initiiert in einem gegebenen Kontext (in diesem Fall dem Affenkäfig) seine eigenen Erkundungsbewegungen. Dieses Verhalten könnte man als instinktive Neugier bezeichnen. Dann stellt der Affe fest, dass auf die Initiierung bestimmter Handlungen, etwa das Greifen in die Box, gelegentlich Belohnungen folgen. Mit anderen Worten, er erlernt eine zielgerichtete Handlung: die Erwartung, dass nach der Initiierung einer gegebenen Handlung womöglich eine bestimmte Belohnung winkt. Das entspricht dem, was uns bei der visuellen Kalibrierung begegnet ist: Nach der Initiierung einer Augenbewegung wurde fortan eine bestimmte Sichtverschiebung erwartet. Der Hauptunterschied besteht darin, dass beim erkundenden Lernen des Affen das Verhältnis zwischen Handlung und Wirkung komplizierter ist – nur wenige von vielen möglichen Handlungen führen zur Belohnung, und zwischen der Initiierung der Handlungen und ihrer Wirkung bestehen auch variable Zeitintervalle. Trotzdem sind die Grundprinzipien des Lernens, nämlich das Zusammenspiel von Handlungen, Erwartungen und Diskrepanzen, dieselben.
    Indem Handlungen in Bezug zu ihren Wirkungen gestellt werden, ist der Prozess des erkundenden Lernens der Kalibrierung nicht nur ähnlich; er beruht selbst darauf. Die erkundenden Bewegungen des Affen sind nur möglich, weil der Affe sich schon in der Welt verankert hat und weiß, wie er sich darin verhalten muss. Diese frühere Kalibrierung bewirkt auch, dass der Affe, wenn die Box leicht verschoben wird, weiß, wie er seine Bewegungen anpassen muss, um die Belohnung trotzdem zu finden. Gerade durch das Zusammenspiel vonKalibrierung und Erkundung können zielgerichtete Handlungen erlernt werden.
    Das Training auf das Türgeräusch integriert einen weiteren Umweltfaktor in diesen Prozess. Der Zugang zur Box ist jetzt blockiert, bis das

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