Die Fotografin
dieses Zimmer nicht mehr betreten und jetzt scheint es so, als hätte ich die ganze Nacht auf dem harten weißen Holzboden geschlafen. Doch halt, das stimmt so nicht: Unter der Aufsicht von Dr. Mertens, der als Hans ein Teil unserer Familie ist, haben Gregor und ich dieses Zimmer vor einem Jahr systematisch ausgeräumt. Es ist das Zimmer unseres toten Sohnes Paul, und wir haben uns von jedem Gegenstand, der einmal Paul gehörte, verabschiedet. Jedes Stofftier, jeder Stein, jedes Poster und jede Zeichnung wurde feierlich zu Grabe getragen, das heißt, in grauen Schachteln verstaut. Durch diese Zeremonie des Abschieds sollten wir unsere Trauer überwinden und die nagende Ungewissheit beseitigen, denn die Leiche unseres Sohnes wurde nie gefunden. Wir hatten uns auf Anraten von Dr. Mertens auch feierlich geschworen, den Namen unseres Sohnes niemals wieder auszusprechen, um ihn auf diese Weise aus unserem Gedächtnis zu tilgen. Als Paul vor einem Jahr für tot erklärt wurde, schlug uns Dr. Mertens diesen Therapieansatz vor. Bei Gregor scheint es ganz gut zu funktionieren, denn er hat sich sofort danach wieder in seine Arbeit gestürzt und mit der Aussicht auf ein Ministeramt wieder festen Boden unter den Füßen erlangt. Ich hingegen schwebe weiter im luftleeren Raum und bin alleine zurückgeblieben.
Für mich war es einfach unmöglich, die fünf Jahre, die mein Sohn gelebt hat, in Pappkartons zu verpacken und dadurch abzuhaken. Ihn einfach abzuschreiben. Ich konnte einfach nicht loslassen und wollte es nicht wahrhaben, dass nichts mehr von meinem kleinen Jungen übrig bleibt als Spielsachen und Kleider, die einem guten Zweck gespendet werden. Das war vor einem Jahr und anschließend habe ich auf Anraten von Dr. Mertens das Zimmer weiß ausmalen lassen, auch den Fußboden – ja, selbst die Türgriffe sind weiß. Es sollte mein Fotoatelier werden für den Neuanfang. Gregor wird Minister und ich eine berühmte Fotografin. Eine Erfolgsfamilie eben. Doch ich habe es nicht geschafft. Ich konnte meinen Sohn nicht vergessen, konnte auch keinen Schritt mehr in das weiße Zimmer setzen – bis heute Nacht.
Der Vollständigkeit halber muss ich sagen, dass der Tod meines Sohnes eine doppelte Tragödie war, denn, wie gesagt, seine Leiche wurde nie gefunden. Eine gefährliche Unterwasserströmung hat ihn hinaus auf das offene Meer getrieben und trotz einer wochenlangen Suchaktion gab es keine Spur von ihm. Immer wieder träume ich davon, dass er tot durch die Weltmeere treibt – von Delfinen getragen, von geheimen unterirdischen Strömungen vorwärtsgezogen – und dass sich seine Todesreise mit den Jenseitsreisen anderer Ertrunkener kreuzt. Dieser strahlend schöne Tag, an dem mein Sohn vor Mykonos in den Fluten umgekommen ist, war das Ende meines bisherigen Lebens. Wochenlang konnte ich nur mithilfe der Tabletten von Dr. Mertens überleben, jeder Tag Leben war eine Qual, jeder Tag ohne Abschiednehmen von meinem Kind eine unmenschliche Folter.
Dann kam Björn. Mit Björn hatte ich plötzlich die Möglichkeit, loszulassen und einem geliebten Menschen endgültig Lebewohl zu sagen. Björn nahm mir die Angst vor dem Wasser, doch durch Björn war ich auch schuld an einem Desaster, das meinen Mann beinahe die politische Karriere gekostet hatte und mich fast um den Verstand brachte. Aber über Björn will ich nicht nachdenken. Nicht in dem weißen Zimmer. Hier dreht sich alles um Paul. In diesem vollkommen leeren Raum will ich um meinen Sohn trauern, der jetzt zehn Jahre alt wäre und dem die ganze Welt offengestanden hätte.
Mühsam und mit schmerzenden Gliedern setze ich mich auf, schließe die Augen und eine weiß lackierte Zaubertür am Ende des Flurs öffnet sich. Ein strahlender Junge mit von der Sonne ausgebleichten blonden Haaren läuft lachend auf mich zu. Mit einem Satz springt er in meine Arme und beide huschen wir schnell in seine magische Dschungelwelt. Löwen, Tiger, Affen und unzählige andere Stofftiere, die Paul bei jeder Gelegenheit bekommen hat, begrüßen mich wie eine alte Freundin. Atemlos beginnen wir uns gegenseitig unsere Erlebnisse im Dschungel und in der Großstadt zu erzählen, während Paul mit großen Augen auf dem Bett sitzt und sich vor Lachen den Bauch hält. Als dann der alte mottenzerfressene Löwe mit tiefer Stimme von seinen unzähligen Wehwehchen erzählt, ist Paul auch schon mit seinem Arztkoffer zur Stelle. Vorsichtig drehen wir den großen Löwen zur Seite und ich assistiere Paul bei dieser
Weitere Kostenlose Bücher