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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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nur noch eine Möglichkeit zu geben. Sie ging widerstrebend zur Terrasse, beugte sich über die Balustrade und versuchte, nach unten zu gucken, auf die Gasse, die zwischen der untersten Häuserreihe und dem Fuß ihres Hauses hindurchführte. In ihren schlimmsten Vorstellungen lag dort unten in der Gosse ein regloses Fellbündel, in dessen langen silbergrauen Haaren der Wind spielte.
    Aber dort lag nichts. Ein Windstoß wirbelte von unten hoch und wehte ihr Staub ins Gesicht. Wütend wischte sie die unerwünschten Tränen weg, die der Wind und der Sand ihr in die Augen trieben. Sie haßte die Angstzustände, die sie viel zu oft überfielen. Sie haßte das Gefühl von Panik, diesen ungebetenen und unverhofften Gast. Sie haßte sich in ihrer Schwäche.
    »Man kann was dagegen tun «, hörte sie ihn sagen. »Du mußt etwas machen. Du kannst dich nicht so jagen lassen von deinen Dämonen.« Sie hatte genickt, ohne ihm zu glauben.
    Als sie sich wieder zur Terrasse drehte, kam der Schrei, gellend und durchdringend. Und dann das Geräusch trappelnder Pfoten, flatternder Flügel. Und immer noch schrie es. Sie preßte die Hände auf die Ohren.
    Die Katze trug ein kleines, graues Etwas im Maul, das sie zwei Meter von Alexa entfernt auf den Terrassenboden fallen ließ. Alexa war wie gelähmt, während die Katze zu ihr hochguckte und darauf wartete, gelobt zu werden. Der Vogel, eine junge Schwalbe, zitterte, bewegte die Flügel, wollte sich aufschwingen. Felis schaute sich das ein paar Sekunden an und legte schließlich ohne Hast die Samtpfote auf den zuckenden Vogelkörper. Ließ die kleine Kreatur schreien und zappeln und immer noch auf ein Entkommen hoffen. Alexa spürte, wie ihr die Augen brannten und die Kehle eng wurde.
    »Hör auf«, sagte sie mit erstickter Stimme, zu wem auch immer. Und: »Stirb endlich.«
    Das Knacken der Vogelknochen drang wie aus einem Verstärker zu ihr herüber. Alexa flüchtete in die Küche.
    Als sie mit dem Weinglas in der Hand zurückkam, hatten sich die Gewitterwolken verzogen. Felis lag auf dem Stuhl und putzte sich mit Hingabe. Ein sanfter Wind trieb weiße und schwarze Flaumfedern über die Terrasse. Sicher war der Vogel zu jung und zu schwach gewesen, dachte Alexa, während sie ihrer Katze zusah. Und was kann so ein kleines Raubtier schon für seine Natur?
    Doch plötzlich war es wieder da, das Gefühl des Unbehagens. Der kühle Hauch, der vom Haus herüberströmte, als würden die dicken alten Mauern die warme Abendluft verschlingen und sie als Grabeskälte wieder ausatmen, ließ sie frösteln. Die Rufe der Nachbarin nach dem Hund und die halblauten Gespräche von der Grillparty ein paar Häuser weiter drangen wie aus weiter Ferne zu ihr hinauf, von einem hämischen Echo verzerrt. Der Mond, der hinter dem bewaldeten Horizont aufstieg, kam ihr leichenblaß und aufgedunsen vor. Die Frösche quarrten lauter. Und die Schwalben, die eben noch weit oben am langsam dunkler werdenden Himmel ruhige Kreise gezogen hatten, fanden sich plötzlich zu rächenden Geschwadern zusammen und rasten, gellend schreiend, über ihren Kopf hinweg.
    Alexa griff zum Glas und nahm einen tiefen Schluck Wein. Der Korkgeschmack war so intensiv, daß sie unwillkürlich ausspuckte. Warum hatte sie das nicht schon beim Öffnen der Flasche gemerkt? Angeekelt leerte sie das Glas in einen Blumenkübel. Sie spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Es war dunkel geworden und die Sterne rückten näher. Die Zikaden lärmten. Oben knallte ein Fenster. Unten fiel eine Tür ins Schloß.
    Die Kirchturmuhr begann zu schlagen und schien gar nicht wieder aufzuhören mit dem blechernen dröhnenden Geläut. Es roch so intensiv nach Lavendel, daß ihr fast die Luft wegblieb.
    Felis sprang auf ihren Schoß, murrte und versteckte den Kopf unter ihrer Hand. Nach einer Weile atmete Alexa ruhiger. Ada Silbermann, dachte sie.
    Sie kam sich kein bißchen lächerlich vor, als sie plötzlich, wie das brave Kind, das sie einmal gewesen war, das Vaterunser murmelte.

4
    Frankfurt am Mai
    N ichts, fand sie, erinnerte in ihrem Gesicht an die Person, die sie einmal gewesen war. Dorothea v. Plato musterte ihr Spiegelbild mit zusammengezogenen Augenbrauen. Nicht nur, weil sie älter geworden war; ein Tatbestand, der keinen Zweifel duldete. Sie schaltete das Licht im Badezimmer an. Die Haut unter den Augen war dünn und empfindlich geworden. Die braunen Flecken an der Schläfe unterhalb des Haaransatzes waren neu – und die Kerbe über der linken

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