Die Fotografin
Es fällt mir schwer, aber jetzt habe ich mich dazu durchgerungen, einen klaren Strich unter meine Vergangenheit zu machen. Deshalb muss alles aus dem Keller verschwinden, was mit meinen Erinnerungen zusammenhängt. Da bin ich jetzt radikal.
Verträumt krame ich mich durch mein bisheriges Leben. Natürlich sind die letzten zehn Jahre ausgespart, denn alle Erinnerungsstücke, die mit Paul zusammenhängen, haben Gregor und ich ja vor einem Jahr rituell beerdigt. Aber die Zeit davor, die gibt es. Ich blättere durch diverse Schülerzeitungen, finde ein altes Foto unseres Abiturjahrgangs.
Damals hatte ich noch alle Möglichkeiten, denke ich und betrachte versonnen das Foto. Zur Feier des Tages hatte ich mir Locken gedreht und sehe neben der schwarzhaarigen Marion aus wie ein blonder Engel.
16:15 Uhr
Marion. Wieso durchzuckt es mich, wenn ich an Marion denke? Ich sehe ihr Gesicht auf dem Foto. Es ist sehr hübsch und sehr bleich, ein scharfer Kontrast zu ihren üppigen schwarzen Haaren. Marions Augen sind dunkel, fast schwarz und meine sind blau, kornblumenblau. Die dunklen Augen von Marion erinnern mich an etwas, das ich aber noch nicht greifen kann. Achselzuckend will ich das Bild zurück in den Karton legen, doch dann zögere ich, starre in die Augen von Marion, die schon damals kalt schimmerten. Marions Gesicht im Kopf lehne mich an einen Pappkarton.
Plötzlich bin ich weit weg. Ich bin in der Wohnung in der Operngasse und stehe nackt und blutverschmiert mit einem Messer in der Hand vor der Leiche von Talvin. Mein Herz beginnt hektisch zu schlagen, denn ich will nicht wieder von diesen Halluzinationen heimgesucht werden, ich will endlich gesund sein, will eine ganz normale Ehefrau sein. Aber es gibt kein Entrinnen, die Szenerie wird bedrohlich real und zum ersten Mal spüre ich, dass noch jemand in der Wohnung ist. Ich hebe den Kopf, sehe von der Leiche weg zum Fenster. Dort ist plötzlich ein Schatten hinter mir aufgetaucht, undeutlich, aber es kann keine Täuschung sein. Da ist jemand! In der Spiegelung sehe ich auch, dass diese Person einen Stock in der Hand hält und damit ausholt. Instinktiv will ich mich zur Seite drehen, um den Angriff abzuwehren, aber dazu ist es natürlich zu spät. Und völlig real spüre ich einen harten Schlag auf den Hinterkopf, dann wird alles schwarz.
16:30 Uhr
„Marion, ich bin’s! Wir müssen uns aussprechen“, rufe ich kurze Zeit später völlig aufgeregt in mein Handy. Die Verbindung von unserem alten Abiturfoto mit meinen Erinnerungsfetzen ließ mir keine Ruhe, deshalb habe ich auch Marion angerufen. „Kannst du vorbeikommen?“
„Liebes, ich bin noch in der Agentur!“ Marions Stimme klingt gehetzt, wahrscheinlich hat sie wieder Stress mit den jungen ehrgeizigen Kontakterinnen, die man im Hintergrund sprechen und lachen hört. „Wieso hast du dich solange nicht bei mir gemeldet? Wir haben dich auch bei der Beerdigung von Raul vermisst.“
„Raul wurde schon beerdigt?“ Ich muss schlucken und wische mir eine Träne aus dem Gesicht. „Davon wusste ich ja gar nichts!“
„Gregor hat dich entschuldigt. Er sagte, du hättest einen Zusammenbruch gehabt oder so etwas Ähnliches.“
„Wieso telefonierst du mit Gregor?“, frage ich und eine innere Unruhe erfasst mich. „Er hat mir gar nichts davon erzählt, dass er mit dir in Kontakt ist. Seht ihr euch öfter?“
„Sei nicht albern, Liebes!“, deutet Marion meinen skeptischen Unterton sofort richtig. „Als deine beste Freundin habe ich mich nach dir erkundigt. Du meldest dich ja nie!“
„Tut mir leid, aber mir ging’s nicht besonders.“
„Schon gut, Liebes! Warum rufst du an?“
„Ich weiß jetzt, dass mich jemand in der Wohnung von Talvin niedergeschlagen hat“, sage ich atemlos.
„Geht das schon wieder los!“, seufzt Marion.
„Aber diesmal habe ich alles völlig realistisch erkennen können!“, antworte ich aufgeregt.
„Wirklich? Und was genau hast du denn gesehen?“ Jetzt habe ich plötzlich Marions Interesse geweckt.
„Ich habe in der Spiegelung der Fensterscheibe direkt hinter mir eine Gestalt gesehen.“ Während ich spreche, baut sich in meinem Kopf die Szene sehr wirklichkeitsnah auf. Im Fenster sehe ich die Gestalt, aber sie ist zu schnell hinter mir, um sie genauer zu erkennen.
„Ich muss das Bild einfrieren!“, sage ich gedankenverloren zu mir selbst.
„Du hast ein Foto gemacht?“ Marions Stimme klingt irgendwie schrill, aber das kann auch an der schlechten Akustik in
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