Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
eine Art zu sterben; das Leben in Frankreich ist ein langer Sonntag, der böse endet.
Für ein schlafendes Kind beginnt das sehr früh. Plötzlich wird das Fenster aufgerissen, die Läden geöffnet, und das Licht flutet ins Zimmer. Man fährt hoch und kneift die Augen zusammen, man möchte sich wieder unter das von der Nacht verknitterte Laken verkriechen, auf dem die Decke verrutscht ist, aber man fordert uns zum Aufstehen auf. Man steht mit verquollenen Augen auf, geht mit kleinen Schritten aus dem Zimmer. Die von einem großen Laib abgeschnittenen Scheiben Brot werden eingetunkt, und dieser Anblick ist ein wenig ekelerregend. Man muss die große Schale leer trinken, die man mit beiden Händen hebt und lange vor dem Gesicht festhält.
Die neuen Kleider liegen auf dem Bett, es sind Kleider, die man nicht oft trägt, nicht oft genug, um sie geschmeidig werden zu lassen und sie zu lieben, aber man muss sie anziehen und darauf achten, sie nicht zu zerknittern und nicht zu beschmutzen. Sie haben nie ganz die richtige Größe, denn man trägt sie nicht auf, und sie halten zu lange. Die Schuhe sind zu eng, weil sie zu wenig getragen worden sind, ihre harten Ränder verletzen die Knöchel und die Ferse, an der sich die Socken durchlöchern.
Man ist fertig. Die Beklemmung und die Schmerzen sieht man uns nicht an, von außen gesehen wirkt alles untadelig, man kann uns keinen Vorwurf machen. Die Schuhe werden noch schnell geputzt, sie drücken schon, aber das ist unwichtig. Man braucht nicht weit zu laufen.
Man geht zur Kirche; man geht zur Versammlung – mit »man« ist jeder und niemand gemeint. Man geht gemeinsam hin, es wäre schade, wenn man nicht dabei wäre. Man steht auf, man setzt sich, man singt wie alle anderen, sehr schlecht, aber Reißaus zu nehmen, würde bedeuten, nicht mit den anderen zusammen zu sein, und daher bleibt man, und singt, schlecht. Auf dem Kirchenvorplatz wechselt man ein paar höfliche Worte; die Schuhe drücken.
Man kauft Törtchen, die man in einen sehr ordentlichen festen weißen Karton legen lässt. Manhält den Karton ganz vorsichtig an einer Schlaufe an dem Band, mit dem der Karton verschnürt ist. Man bemüht sich, beim Gehen den Karton nicht hin und her zu schütteln, denn darin befindet sich eine Auswahl kleiner kunstvoller Burgen aus Creme, Karamell und Butter. Sie werden das üppige Gericht beschließen, das schon auf dem Herd oder im Backofen schmort.
Es ist Sonntag, die Schuhe drücken, man nimmt vor dem Teller Platz, den man uns zugewiesen hat. Jeder setzt sich vor einen Teller, jeder hat den seinen; jeder setzt sich mit einem Seufzer der Erleichterung, aber dieser Seufzer kann auch ein wenig Überdruss oder Resignation ausdrücken, bei Seufzern weiß man das nie so genau. Niemand fehlt, aber möglicherweise wäre man gern woanders; niemand will kommen, aber man wäre zu Tode gekränkt, wenn man nicht eingeladen worden wäre. Niemand wünscht sich anwesend zu sein, aber man hat Angst davor, ausgeschlossen zu sein; dort zu sein, ruft Langeweile hervor, aber nicht dort zu sein, würde schmerzhaft sein. Und daher seufzt man und isst. Das Essen ist gut, aber zu schwer, und die Mahlzeit dauert zu lange. Man isst viel, viel mehr als man möchte, aber man empfindet Vergnügen dabei, und nach und nach spürt man, wie der Gürtel schnürt. Das Essen ist nicht nur ein Vergnügen, sondern es besteht auch aus Materie, es hat ein Gewicht. Die Schuhe drücken. Der Gürtel schnürt sich in den Bauch, er behindert uns beim Atmen. Bereits bei Tisch fühlt man sich unwohl und ringt nach Luft. Man sitzt für alle Zeiten mit jenen Leuten am Tisch und fragt sich warum. Und so isst man. Das fragt man sich. Und wenn man darauf antworten will, schluckt man einen Bissen hinunter. Man antwortet nie. Man isst.
Worüber wird gesprochen? Über das, was man isst. Man plant es, man bereitet es vor, man isst es: und immer redet man darüber, was man isst, beschäftigt den Mund auf mehrfache Weise. Beim Essen beschäftigt man den Mund damit, nichts zu sagen, man beschäftigt ihn, um nicht mehr reden zu müssen, um endlich diesen nach außen und nach innen geöffneten bodenlosen Schlauch zu füllen, diesen Mund, den man leider nicht stopfen kann. Man beschäftigt sich damit, ihn zu füllen, um eine Rechtfertigung dafür zu finden, nichts mehr zu sagen.
Die Schuhe drücken, aber unter dem Tisch kann das niemand sehen; das spürt man nur, und daher ist das unwichtig. Man lockert den Gürtel ein wenig,
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