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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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demselben Satz, demselben Handstreich zugleich beschrieb und eroberte. Cäsar verbreitete Lügen, so wie viele Historiker es tun, deren Wahl auf die ihnen am besten erscheinende Realität fällt. Und daher begründen der Roman und der lügende Held die Realität viel besser als Taten, eine große Lüge bietet die Basis für Taten, das versteckte Fundament und zugleich das schützende Dach für Handlungen. Taten und Worte zerlegen gemeinsam die Welt und verleihen ihr ihre Form. Der militärische Held ist es sich schuldig, ein Romancier, ein großer Lügner und ein Erfinder von Worten zu sein.
    Die Machthaber setzen sich in Szene und zehren von diesen Bildern. Der in jeder Hinsicht geniale Cäsar begann in gleichem Tempo eine militärische, eine politische und eine literarische Offensive. Dabei handelte es sich für ihn nur um unterschiedliche Aspekte ein- und derselben Aufgabe: die Führung seiner Truppen, die Eroberung Galliens und die Berichterstattung über diesen Feldzug, und jeder Aspekt verstärkte die anderen in einer endlosen Spirale, die ihn auf den Gipfel des Ruhms führte, bis in jene Gefilde des Himmels, in der gemeinhin nur noch Adler segeln.
    Die Realität ruft Bilder hervor, und das Bild verleiht der Realität Gestalt: jedes politische Genie ist ein literarisches Genie. Dieser Aufgabe war Marschall Pétain nicht gewachsen: Der Roman, den er dem vor Erniedrigung verstummten französischen Volk vorhält, ist keiner; es ist nicht einmal ein von allen anstößigen Stellen gesäubertes Lesebuch für die Grundschule wie es Le Tour de la France par deux enfants über ein halbes Jahrhundert gewesen war, oder ein läppisches Malbuch, das man mit herausgestreckter Zunge vollkritzelt. Pétain ist stark vergreist, er bleibt nicht lange wach, seine Stimme ist zittrig. Niemand glaubt an die kindischen Ziele seiner viel beschworenen Nationalen Revolution. Man nickt zerstreut und denkt an etwas anderes: an Schlaf, daran, seiner Beschäftigung nachzugehen oder sich gegenseitig im Dunkeln umzubringen.
    Salagnon übersetzte gut, aber langsam. Er brütete verträumt über den kurzen lateinischen Sätzen, verlieh ihnen Ausschmückungen, die sie nicht besaßen, verhalf ihnen zu neuem Leben. Auf den Rand malte er eine räumliche Darstellung der Schlacht. Hier die Weide; dort die schräg zulaufenden, sie begrenzenden Waldsäume; hier der Hang, der die Stoßkraft verstärkt; dort die in Reih und Glied aufmarschierten Legionen, in denen jeder seinen Nebenmann kennt, den er stets beibehält; und davor die wilde Horde halbnackter Kelten, »unsere Vorfahren« die Gallier, dümmlich und voller Kampfeslust, jederzeit bereit, sich zu schlagen, den Kitzel des Krieges zu spüren, nur um des Kitzels willen, egal wie die Schlacht ausgeht. Salagnon ließ einen Tropfen blauer Tinte auf seinen Finger fallen, verdünnte sie mit Speichel und versah die Zeichnung mit durchsichtigen Schatten. Er rieb vorsichtig über das Papier, bis die harten Striche schmolzen, der Raum sich weitete und das Licht sichtbar wurde. Zeichnen ist eine an Wunder grenzende Tätigkeit.
    »Sind Sie sicher, dass die Aufstellung so stimmt?«, fragte Fobourdon.
    Salagnon zuckte zusammen, errötete, verdeckte die Zeichnung unwillkürlich mit dem Ellbogen und ärgerte sich dann über diese Reaktion; Fobourdon schickte sich an, ihn an den Ohren zu ziehen, verzichtete dann aber darauf; seine Schüler waren siebzehn. Beide richteten sich ein wenig geniert wieder auf.
    »Mir wäre es lieber, Sie kämen mit Ihrer Übersetzung voran, anstatt sich mit solchen Nebensächlichkeiten abzugeben.«
    Salagnon zeigte ihm die bereits übersetzten Zeilen; Fobourdon fand keinen Fehler darin.
    »Ihre Übersetzung ist gut und die Lagebeschreibung zutreffend. Aber mir wäre es lieber, wenn Sie die lateinische Sprache, die einen Höhepunkt des Denkens darstellt, nicht mit solchen Kritzeleien verunstalten würden. Sie benötigen all Ihre geistigen Reserven, wirklich alle, um die Gipfel zu erreichen, die den alten Griechen und Römern vertraut waren. Also hören Sie auf zu spielen. Bilden Sie Ihren Geist, er ist das einzige Gut, über das Sie verfügen. Geben Sie den Kindern, was den Kindern zukommt, und Cäsar, was des Cäsars ist.«
    Befriedigt entfernte er sich, gefolgt von einem Murmeln, das durch die Reihen lief. Er stieg auf sein Podest und wandte sich der Klasse zu. Es wurde still.
    »Fahren Sie fort.«
    Die Gymnasiasten übertrugen weiter den Bericht über die gallischen Kriege in

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